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Archiv-Artikel

Diaspora als Endzustand

Heute eröffnet das neue Jüdische Museum im österreichischen Hohenems. Statt auf Gedenken setzt es auf Erinnerung, statt auf Glauben auf Erfahrung

Im Hohenemser Museum wird die Schoah als Zäsur statt als negatives Stiftungsereignis für jüdische Identität behandelt

VON ISOLDE CHARIM

Die österreichische Filmemacherin Ruth Beckermann meinte kürzlich in einem Interview, die dritte jüdische Generation könne ihre Identität nicht mehr aus der Schoah beziehen und rekurriere deshalb auf die Tradition. Solche Äußerungen sind Indiz für eine Veränderung, die das heutige Judentum auf der Suche nach seiner Identität zeigt. Die Alternativen jedoch greifen zu kurz: Die gegenwärtige Entwicklung nimmt einen anderen Verlauf – „jenseits“ von Schoah und Tradition. Mit seiner neuen Dauerausstellung versucht das Jüdische Museum Hohenems nun, dieser grundlegenden Verschiebung gerecht zu werden.

Der Ausgangspunkt der Ausstellung ist die Feststellung, dass jüdisches Leben durch Migration geprägt ist (die nicht immer nur durch Verfolgung bestimmt ist, wie etwa die Heiratsmigration), durch die Herstellung von Netzwerken. Diese sind in zweifacher Hinsicht grenzüberschreitend: sowohl transnational als auch interkulturell – bis hin zur Konversion, wie man an der Hohenemser Geschichte sehen kann. Dass Letzteres zum Objekt eines jüdischen Museums wird, ist keineswegs selbstverständlich. Aber genau daran lässt sich ermessen, worum es bei dieser Neudefinition geht. Die Fokussierung auf eine mobile Netzwerkexistenz mit all ihren Brüchen – auf eine Gemeinschaft also, die genau durch ihr Gegenteil, durch Beweglichkeit, am Leben gehalten wird – verweist auf das, was den „Kern“ des Judentums ausmacht: seine anhaltende „kontrapräsentische“ Identität (Jan Assmann).

Das grundlegende Kennzeichen des Judentums wären demnach nicht dessen anschauliche Riten und Bräuche, sondern dessen „reservatio mentalis“, der Vorbehalt gegen jede feste Verankerung in einer Lebenswelt, in einer Gegenwart. Vielleicht lässt sich dies am besten folgendermaßen beschreiben: Im 15. Jahrhundert kam es unter der Herrschaft der Inquisition zur Zwangstaufe der spanischen Juden. Die Konvertierten, die sogenannten Marranen, entwickelten eine Art Doppelleben, wonach sie äußerlich den katholischen Riten folgten, innerlich aber dem – oft heimlich praktizierten – Judentum verbunden blieben. Im Laufe der Zeit verlor sich oftmals der Inhalt des inneren Glaubens, was aber blieb, war eine Spaltung, die Juden wurden niemals eins mit ihrer Lebenswelt. Judentum bestände demnach im Offenhalten solch einer Differenz, in einem strukturellen Marranentum. Ihrer religiösen Konnotierung entledigt, wäre die „Auserwähltheit“ des jüdischen Volkes nichts anderes als solch eine Andersheit, die selbst bei gelungener Assimilation eine Differenz offen hält, einen Vorbehalt bestehen lässt – mag dieser nun religiös gefüllt sein oder nicht.

Als Struktur zielt Auserwähltheit nicht auf anderwärtige Erlösung, sondern vollzieht sich performativ im Hier und Jetzt: durch die Behauptung einer Differenz, die letztlich keine Spezifizierung hat. In diesem Sinne unternimmt die neue Dauerausstellung in Hohenems notwendigerweise auch eine Neudefinition des Diaspora-Begriffs. Keine Verbannung aus der Heimat, kein Exil mit der Perspektive einer Rückkehr, ist die Diaspora ein Endzustand. Die hier präsentierte Diaspora wird so zum Lebensmodell einer europäischen Identität: Sie ist exemplarisch für eine europäische Gesellschaft wie für ein genuin europäisches Judentum, ein Judentum, dem es nicht an einer israelischen Existenz mangelt. Der Diaspora-Jude, dem wir im Museum begegnen, ist kein Minus-Israeli. Er hat eine eigene Identität.

Nun ist es mit dieser aber ein, wie Marx sagt, „vertracktes Ding“. Besteht Identität darin, sich im Bild des Selben, im Spiegelbild also, wiederzuerkennen, so bedeutet europäisch-jüdische Identität, sich im Bild des Anderen, im Fremden, in der Fremde „wiederzuerkennen“. Das Paradoxe, das Unmögliche an diesem „Wiedererkennen“ zeigt, dass es sich hierbei um keine volle, im Einklang mit sich selbst stehende Identität handeln kann. Hohenems verabschiedet die fantasmatische Vorstellung einer vollen jüdischen Identität in zweifacher Weise: sowohl nach innen als auch nach außen.

Nach innen wäre der Punkt, an dem sich eine volle jüdische Identität festschreibt, die Tradition – hier vor allem die Halacha, das jüdische Gesetz, das bestimmt, wer Jude ist. Das Museum hält sich nicht an diese Normierung. Indem sie auch die längst konvertierten Nachfahren der Hohenemser Juden umfasst, ist die Hohenemser Definition hochgradig säkular. Das neue europäische Judentum ist säkular – in dem Sinne, dass es vor allem strukturell jüdisch ist, also in einer Differenz lebt. Statt auf den Glauben rekurriert dieses auf die Erfahrung, statt auf das Gesetz auf die Erinnerung. Deshalb kann ein Museum zu seiner zentralen Institution werden.

Allerdings nur ein Museum, das auf den Anspruch, eine volle jüdische Identität nach außen zu repräsentieren, verzichtet. Dazu ist es notwendig, zwei Gefahren zu vermeiden. Zum einen darf es nicht von einer gemeinsamen jüdisch-österreichischen Kultur erzählen. Das Museum muss der Verlockung einer „Politik der Idylle“ widerstehen, die die „gelungene“ Integration der Juden in einem fatalen Sinn als Aufhebung der Differenz missversteht. Zum anderen muss es aber auch die gegensätzliche (größere) Gefahr, jene der Folklorisierung, vermeiden. Die Folklorisierung betont nicht nur die Verschiedenheit von Juden und Österreichern, sie schreibt diese Fremdheit auch fest. Durch die Folklorisierung wird der Andere fix in seiner vollen Identität verankert, die sich durch bunte Zeichen belegen lässt, wie etwa in der Präsentation von Kultusgegenständen. Hier wird das Ausstellen von fremden Objekten zum Beleg für die Andersartigkeit einer sozialen Gruppe.

Folklorisierung bedeutet also, die Objekte als Beweisstücke einer eindeutigen Identität zu verstehen. Gegen die Verlockung, volle Zeichen zu präsentieren, setzt nun das Museum in Hohenems die filigrane und prekäre Aufgabe, jüdisches Leben anhand von Spuren, die es hinterlässt, zu rekonstruieren. Spuren also statt voller Zeichen, um sowohl die Vieldeutigkeit als auch die Wandelbarkeit und nicht zuletzt auch die Verstreutheit dessen zu skizzieren, was Judentum zu dem macht, was es ist: eine eigene, andere Erfahrung.

Dies ist der entscheidende Punkt: das nichtreligiöse Judentum wird nicht durch seine Kultur bestimmt, wie es der beliebte Gemeinplatz suggeriert. Auch wenn es sich in einer Art Selbstfolklorisierung gerne als vollen Träger dieser jüdischen Kultur sieht. Nein, der Inhalt seiner Differenz, das also, was das säkulare Judentum ausmacht, ist eine andere kollektive Erfahrung. Also nichts, was diese Differenz schließen würde – wie eine identitätsstiftende Kultur –, sondern ebenjene Erinnerungen, die die kontrapräsentische Struktur offen halten, auch wenn die Koffer längst ausgepackt sind. Das Sammeln ihrer Spuren, das Zusammenführen des Verstreuten, macht das Museum zu einem ganz eigenen Ort: Es wird zu einem Knotenpunkt, zum exzentrischen Zentrum einer „virtuellen Gemeinde“, deren Zusammenhalt durch die Gemeinsamkeit der Erinnerung bestimmt ist. Insofern ist seine Lokalisierung an einem Ort ohne Juden folgerichtig, in Hohenems lebt heute kein Jude mehr. Gerade deshalb ist das Museum aber in einem nachdrücklichen Sinne kein Community-Museum: Es präsentiert keine homogene Gruppe, die dem Betrachter eine allzu simple Bestätigung seiner selbst garantiert. Denn über ein festgeschriebenes Fremdes könnte man sich – affirmativ oder verneinend – der eigenen Identität versichern. So affiziert die Darstellung eines in sich gespaltenen Anderen auch die nichtjüdischen Besucher.

Aber nicht nur Religion und Tradition, auch der Holocaust ist hier kein fixer Punkt, von dem aus eine eindeutige jüdische Identität ableitbar wäre. Judentum kann sich nicht nur als Totengedächtnis verstehen, so die Botschaft, nicht als „Erzählung des verlorenen Lebens“ (James Young). Gerade ein Museum verweigert sich der Aufgabe, lediglich Archivar zu sein. Auch das ist in dem emphatischen Sinne säkular, als das Gedenken, das Sich- bestimmen von der Katastrophe her eine religiöse Verpflichtung im Judentum darstellen. Was hier anstelle des Gedenkens stattfindet, ist Erinnerung. Der Unterschied ist an der Präsentationsform ersichtlich: In einer Vitrine werden Schuhe und Papiere von Verstorbenen zu einer Holocaust-Inszenierung, zu einer Sakralisierung also. Denn die Vitrine lädt die so präsentierten Objekte auf: Sie werden zu Insignien des inneren Schatzes, zu Signifikanten der „Seele“ der Ermordeten. Sie sind die vollen Zeichen einer Leerstelle. So präsentiert, erzählen die Dinge die Geschichte vom Ende, von der Auslöschung her. Nicht dass das keine Berechtigung hätte, aber das Museum Hohenems versteht sich nachdrücklich nicht als Holocaust-Mahnmal. Ja mehr noch: Sein Ziel verbietet solches geradezu. Hier meldet sich ein selbstbewusstes europäisches Judentum zurück. Das erfordert einen eigenen Umgang mit der Schoah, der diese nicht als negative Teleologie, nicht als Stiftungsereignis für die aktuelle jüdische Identität behandelt. Der Holocaust erscheint hier deshalb als Zäsur: Es gibt ein Zuvor, aber auch ein Danach. Deshalb ist die Dauerausstellung eine der konkreten Erinnerung an konkrete Menschen und keine des symbolischen Gedenkens.

Indem das Davor, vor der Schoah, als Leben in all seiner Konkretion dargestellt wird, eröffnet sich die Möglichkeit eines Danach, das wieder ein Leben ist. Nicht als Fortschreibung, nicht als Weitererzählung – die Geschichte der Hohenemser Juden endet mit ihrer Vernichtung –, sondern als ein Leben, das von diesem Bruch ausgeht. In einem doppelten Sinn: Es muss bei der Schoah ansetzen, aber es muss von dort aus auch weitergehen. Galt es ehedem, gegen die Verleugnung des Holocaust (bzw. gegen dessen Verneinung, die Zurückweisung des eigenen Anteils daran) einzutreten, so ist heute eine ganz andere Auseinandersetzung nötig.

Am Fall der jüdischen Museen lässt sich die veränderte Situation in etwa so zusammenfassen: In Bezug auf den Konflikt um den Holocaust geht es heute nicht mehr um die Frage, dass es jüdische Museen gibt, sondern was sie sind. Das erfordert eine heikle Positionierung, denn einerseits mag Gedenken nichts verhindern – auch keinen Antisemitismus, aber andererseits stiftet Verdrängen Schaden. Das heißt, Gedenken hat keinen politischen, sondern nur einen moralischen Mehrwert. Diesen erfüllt das Erinnern auch. Deshalb muss das politische Konzept solch einer Institution anderswo ansetzen: an ebenjenem neuen Identitätsvorschlag. Eben die Behauptung einer nicht-vollen, nicht-identischen Identität bildet heute in der „Festung Europa“ einen tatsächlichen Einspruch. Klagte man früher den Ausschluss der Juden an und forderte deren Inklusion, so lautet die politische Behauptung heute: Judentum ist das Nichtintegrierbare der Integrierten. Das gilt es zu respektieren.

Es liegt in der Natur der Sache, dass solch ein „Gegenstand“ durch seine Präsentation auch befördert wird. In diesem Sinne bedeutet der Hohenemser Zugang vor allem eines: die Rückkehr eines jüdischen Selbstbewusstseins.

Hohenems liegt im westösterreichischen Bundesland Voralberg, auf halbem Weg zwischen Bregenz und Feldkirch. Das Museum ist in der Villa Heimann-Rosenthal, Schweizer Str. 5