: Gebärdensprache bleibt ein Fremdwort
Nach fünf Jahren Gleichstellungsgesetz loben Behindertenverbände symbolische Erfolge, vermissen aber nach wie vor die Barrierefreiheit im Alltag. Die Wirtschaft reagiert nur, wenn Gewinne winken – wie etwa bei reichen Senioren
BERLIN taz ■ Junge Mütter und Väter kennen das: Sie erreichen mit Kinderwagen schweißtriefend den Bahnhof. Da fährt oben die S-Bahn ein, alle rennen los, die Treppe hinauf. Nur der Kinderwagen bleibt unten stehen, samt verschwitztem Elternteil. Junge Eltern haben noch Glück: Kinderwagen kann man zu zweit die Treppe hinauftragen. Ein Rollstuhl mit Erwachsenem ist zu schwer. Und: Menschen mit Behinderungen kämpfen dagegen, ständig auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein.
Als Meilenstein in diesem Kampf wurde das Gleichstellungsgesetz gefeiert. Es trat vor fünf Jahren in Kraft, am 1. Mai 2002. Drei Ziele werden mit dem Gesetz verfolgt: die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen, ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.
Dazu wurde zunächst das Wort „Barrierefreiheit“ neu definiert. Anders als die meisten denken, bedeutet es nicht nur, dass Aufzüge oder Rampen existieren. Sehbehinderte und Blinde brauchen Leitsysteme, etwa spezielle Bodenkacheln, anhand derer sie sich orientieren. Lehrmaterialien müssen in Blindenschrift übersetzt werden, Gehörlose benötigen Dolmetscher. Auch das gehört zur Barrierefreiheit. Einen weiteren Punkt möchten die Verbände noch aufnehmen: die einfache Sprache. Behördendeutsch in verständliche Sätze übersetzt – davon würden nicht nur Lernbehinderte profitieren, sondern alle.
Immerhin wurde die Gebärdensprache im Gleichstellungsgesetz erstmals als eigene Sprache anerkannt – ein „erheblicher Bewusstseinsfortschritt in der Bevölkerung“, sagte Horst Frehe von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. V. vorige Woche auf einer Anhörung der Grünen-Bundestagsfraktion. Frehe sieht den Erfolg des Gesetzes vor allem in der Symbolik. „Es macht deutlich, dass der Ausschluss beispielsweise aus dem Arbeitsmarkt nicht die Folge der Behinderung ist, sondern der fehlenden Integrationsmöglichkeit“, sagt Frehe. „Man ist nicht behindert, man wird behindert.“
Von den konkreten Errungenschaften sind viele Verbände allerdings enttäuscht. Politisch waren 2002 nur „Zielvereinbarungen“ durchsetzbar. Sanktionierbare Vorschriften scheiterten am Widerstand der Wirtschaft. Bisher kamen ganze zehn freiwillige Abmachungen zwischen Behindertenverbänden und Unternehmen zustande.
Die Wirtschaft will sich nicht auf einklagbare Zahlen und Fristen festnageln lassen. Sie setzt auf Gewinne – etwa, wenn es um barrierefreies Bauen geht. Die Nachfrage nach solchen Wohnungen steigt. Senioren bilden die finanzstärkste Altersgruppe. „Wo sich mit der Barrierefreiheit Profit machen lässt, kommt sie von selbst“, sagt Frehe.
Enttäuscht sind viele Verbände auch von der Bahn. Immer noch fehlen Rampen oder absenkbare Trittstufen. Stattdessen werden Rollstuhlfahrer mit einer Art fahrbaren Aufzug auf Waggonhöhe gehievt. Auch im Umgang mit Behörden hat das Gesetz für den Alltag nicht viele Verbesserungen gebracht. Wenn eine Gehörlose zur Arbeitsagentur muss oder einen Zahnarzttermin hat – braucht sie einen Dolmetscher. „Die Krankenkasse übernimmt das nicht selbstverständlich“, sagt Astrid Müller, Beauftragte für Menschen mit Behinderung in Flensburg.
In den USA ist die Gebärdensprache heute die viertbeliebteste Fremdsprache, die in Behörden oder Schulen ganz selbstverständlich von einem bestimmten Prozentsatz der Angestellten beherrscht wird. In Deutschland gilt sie nach wie vor als exotisch. Während in den USA Jugendliche mit Down-Syndrom Abitur machen, werden sie in Deutschland in Sonderschulen geschickt. KATHARINA KOUFEN