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Archiv-Artikel

In Madrid steht die Empörung kurz Kopf

Sie reden nicht vom Wetter, sondern von Wahlrecht oder Weltwirtschaft. Dennoch haben die Protestierenden an der Puerta del Sol im Zentrum Madrids stets die Sonne im Blick. Zwar spielt sich das Geschehen überwiegend unter blauen Plastikbahnen ab, die die Gesichter der Aktivisten und Interessierten unwirklich blass einfärben, doch wer an einer der größeren Debattenrunden mit Mikrofon teilnimmt, muss mitunter lange in der Sonne ausharren, die dieser Tage fast ununterbrochen herabbrennt. Freiwillige Sanitäter stehen dafür mit Sonnenmilch bereit.

Überhaupt ist die Selbstorganisation der „Indignados“, der Empörten, bemerkenswert. Allen voran die Putzkolonnen, die in regelmäßigen Abständen den Boden reinigen, es gibt aber auch Stände für Wasser, für Essen, für politischen Diskurs und sogar eine kleine Kinderbibliothek. Angehende Strategen können ihr Denken zudem beim Schachspiel schulen.

Das alles geht mit der größten Ruhe vor sich, lauter wird es eigentlich nur, wenn sich spontan Trommelgruppen bilden, Beifall für Redebeiträge ausbricht oder Passanten ihre abweichenden Ansichten vortragen. Wie die ältere, elegant gekleidete Frau, die mit heiserer Stimme die Protestierer ankeift. Die Besetzer des Platzes nehmen es mit sachlicher Ruhe, weisen sie lächelnd darauf hin, dass sie sich freuen kann, überhaupt noch eine Rente zu bekommen.

Tagsüber ist die Puerta del Sol ohne Weiteres begehbar, man kann in Ruhe die zahllosen Transparente und Zettel studieren, die von den eingerüsteten Gebäuden herabhängen oder an den Glaswänden der U-Bahn-Station kleben: „Mehr Wasser, weniger Alkohol“ heißt es etwa, und immer wieder „Ohne Wohnung, ohne Arbeit, ohne Rente, ohne Angst“. Erst am Abend drängen sich die Menschen auf dem Platz, skandieren Parolen, applaudieren, wenn ein weiteres Spruchband auf einem Dach entrollt wird.

Der Titel der Protestbewegung darf dabei nicht fehlen. Als zwei schwarz gekleidete Männer ein Transparent mit dem Wort „Indignados“ an einem Baugerüst befestigen wollen, skandieren die Zuschauer nach anfänglichem Jubel plötzlich „Umdrehen! Umdrehen!“ Denn das Wort hängt verkehrt herum. Erst rückwärts, dann steht das Band kurz auf dem Kopf. Die Menge lässt nicht locker. Im dritten Anlauf klappt es endlich, und die Empörten haben ohne Verdrehung zu ihrem eigenen Namen gefunden.

TIM CASPAR BOEHME