: „Wir leiden in Europa“
DER VERZWEIFELTE Mouhamed Tanko, 30, aus Niger hat in Europa den Glauben an die Demokratie verloren
Eigentlich wollte Mouhamed Tanko Lehrer werden. In Niger, seiner Heimat, hat er Literatur studiert, Philosophie und Französisch. Er wollte Kindern das lehren, was er selbst in der Schule gelernt hat: über Europa, die Wiege von Demokratie und Menschenrechten. Nun redet sich der spindeldürre 30-Jährige in Rage. „Wir Afrikaner leiden in Europa. In Afrika gibt es Krieg mit Waffen, hier herrscht ein Krieg der Dokumente.“
Tankos Odyssee beginnt in Libyen. Dorthin hatte es ihn verschlagen, weil er sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen hatte, die in Niger verfolgt wird. Als 2011 der Aufstand gegen Gaddafi losbricht, wird Tanko, wie Tausende Afrikaner (siehe Porträt Mahamed Salle) gezwungen, ein Boot zu besteigen. So kommt er nach Lampedusa.
Fast zwei Jahre lebt er in Italien, die Gemeinde Castel Vetro bei Modena gibt ihm Arbeit: Schneeschippen, Straßenreinigung. „Neun Monate haben wir umsonst gearbeitet. Der Bürgermeister hatte uns einen richtigen Job versprochen, sobald wir eine Arbeitsgenehmigung haben.“ Als es soweit ist, gilt das nicht mehr. Stattdessen die Aufforderung, Italien zu verlassen.
Im März 2013 kommt Tanko in Berlin an. Ein Afrikaner zeigt ihm das Protestcamp am Oranienplatz. „Das war mein Paradies“, sagt er. „Ich mochte die Leute, es gab viel Solidarität der Unterstützer – und ich hatte einen Platz zum Schlafen.“ Beim Abkommen mit dem Senat ist er skeptisch, stimmt aber zu. „Kolat hat uns suggeriert, wir würden eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Hätte sie die Wahrheit gesagt, hätten wir den Oranienplatz nie verlassen.“
Ende August sollen die ersten 100 Flüchtlinge die Unterkünfte verlassen, ihre Anträge sind alle abgelehnt. Tanko und neun andere im Heim in der Gürtelstraße gehen aufs Dach. 13 Tage verharren sie dort, doch die Polizei hungert sie aus. Die Gemeinde Heilig-Kreuz-Passion nimmt sie für ein paar Wochen in der Gitschiner15, einem Kulturzentrum für Obdachlose in Kreuzberg, auf. Wie es dann weitergeht? Tanko zuckt die Schultern.
Der Streik auf dem Dach hat ihn nicht nur körperlich geschwächt. Die Enttäuschung darüber, dass Polizisten ihnen Nahrung und Wasser verweigerten, und ein Gericht diese Praxis sogar bestätigte, hat die innere Abkehr des jungen Mannes von den „europäischen Werten“ endgültig besiegelt. Wenn er je ein Kind haben sollte, sagt er, werde er es lehren, „was Europa wirklich ist: eine Demokratie nur für Weiße. Für uns gibt es keine Menschenrechte: nicht in Afrika und hier auch nicht!“ S. MEMARNIA