DVDESK
: Er krakeelt und weint und weiß alles besser

„Nicht böse sein!“, ein Dokumentarfilm von Wolfgang Reinke, ab circa 18 Euro im Handel

Die Annäherung vollzieht der Film wunderbar sanft. Die Kamera gleitet durch die Wohnung, noch ist keiner der Protagonisten im Bild. Dazu die minimalistische Musik von Christian Steinhäuser, die in ihrer Sanftheit dem Geist des ganzen Films angemessen ist

So geht das also auch: Da lebt einer im ersten Stock eines Hauses in Kreuzberg und beginnt sich für die Dreimänner-WG drei Stockwerke darüber zu interessieren. Die drei Männer, das sind Wolfgang, Dieter und der deutlich jüngere Andi. Wolfgang ist schwerster Alkoholiker, Dieter und Andi spritzen sich harte Drogen. Sie sehen auch danach aus. Sie benehmen sich wie unter den Umständen nicht anders zu erwarten. Dieter muss eigentlich in den Knast, weil er eine Strafe selbstredend nicht bezahlen kann. Er schiebt den Aufbruch hinaus, hat Schiss vor dem Turkey, so geht das Tage, Monate, niemand kommt, ihn zu holen. Andi ist viel unterwegs, besorgt sich die Kohle, um seinen eigenen Ruin zu organisieren und zu finanzieren.

Und Wolfgang, ja, Wolfgang ist eine Nummer für sich. Er ist der Hauptmieter der Wohnung. Andi scheint, auch wenn er anwesend ist, meist nicht ganz da, schläft auf dem Boden des Badezimmers, sucht eine eigene Wohnung und findet die ganze Zeit keine. Dieter bekommt oft von einem Kumpel Besuch, setzt sich mit dem gemeinsam im Zimmer die Spritze, das ist Wolfgang nicht recht. Der führt gerne das große Wort, hat auch Unmengen von Schauspielen und Gedichten geschrieben, die er auf eigene Kosten binden lässt (30 Euro pro Band, das spart er sich ab von Hartz IV). Er ist ein Wrack, krakeelt und weint und weiß alles besser, wenn er, wie so oft, restlos besoffen ist. „Nicht böse sein!“, der Titel des Films, verdankt sich dem Satz, den er immer wieder, wie ein kleines Kind, entschuldigend einschiebt, wenn er manchmal wirklich Gemeines, manchmal ganz Harmloses sagt.

Geld hatte der Filmemacher Wolfgang Reinke keines, als er sich vor sechs Jahren in den Kopf setzte, einen Film über seine drei Mitbewohner zu machen. Genau genommen lebte er ebenfalls, wie die Objekte seiner Beobachtung, von Hartz IV. Ein bisschen Förderung trieb er auf. 3.000 Euro kamen von der Werkleitz Biennale, dann noch einmal 15.000 Euro für die Postproduktion.

Die Kamera und den Schnitt machte Gines Olivares, alle Aufnahmen oben in der Wohnung drehten die beiden stets nur zu zweit. Ja, für so wenig Geld (und mit viel Selbstausbeutung) lässt sich ein professioneller Film drehen, der die Jahresproduktion an reißerischen Sozialreportagen der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender locker in den Schatten stellt.

Wie begegnet man diesen drei Menschen, ohne falschen Zungenschlag? Wie geht man damit um, dass sie schlimme Nervensägen sein können? Die Annäherung vollzieht der Film wunderbar sanft. Die Kamera gleitet durch die Wohnung, noch ist keiner der Protagonisten im Bild. Dazu die minimalistische Musik von Christian Steinhäuser, die in ihrer Sanftheit dem Geist des ganzen Films angemessen ist. Hier gibt’s kein falsches Sentiment, keinen Alarmismus, keine gesellschaftskritische Verallgemeinerung, auch keine Verharmlosung oder gar Romantisierung der einfach nur schrecklichen Situation, aus der es für Wolfgang, Dieter und Andi wohl auch keinen Ausweg gibt.

„Nicht böse sein!“, dieser sehr schöne Film, hat es nicht ins Kino und nicht einmal in die Festivalzirkulation geschafft. Das Forum der Berlinale wie das Dokumentarfestival Leipzig haben ihn abgelehnt. Ein ganz ähnlicher Fall wie „Weihnachten? Weihnachten“ von Stefan Hayn und Anja-Christin Remmert aus dem Jahr 2009, der sich mit den sozialen Randbezirken in Berlin-Neukölln in vergleichar offen-neutraler Weise befasst.

Es scheint fast, als fielen zwischen dem üblichen Sensationssentimentalismus des Fernsehens und der forciert festivalkompatiblen Bearbeitung dokumentarischer Stoffe eben die Filme durchs Raster, die unvoreingenommen, genau, mit ehrlichem Interesse auf das blicken, was nicht zum Regelbetrieb der Gesellschaft gehört.

Fünf Jahre nach seiner Entstehung gibt es „Nicht böse sein!“ immerhin endlich auf DVD. Wolfgang, der Säufer und Dichter, hat das nicht mehr erlebt. Der DVD liegen einige seiner Gedichte bei, nichts Berühmtes, dazu ein Nachruf: „Da seine Angehörigen kein Interesse an seinem Ableben zeigten, wurde Wolfgang vom Sozialamt in einem anonymen Grab des Magdalenen-Friedhofes in Neukölln beigesetzt.“ EKKEHARD KNÖRER