: Schönheit, Jugend und Abschied
VERSCHLANKUNG Das Ensemble Resonanz und die Reihe mini-Mahler begehen das Mahler-Jahr mit einer Kammerorchesterversion des „Lieds von der Erde“ – mit mal mehr und mal weniger Erfolg
VON TIM CASPAR BOEHME
Auch wenn man den Satz eigentlich nicht hinschreiben darf: Weniger kann manchmal mehr sein. Spielt man etwa ein Stück für großes Orchester in kleiner Besetzung, treten die einzelnen Stimmen der Instrumente deutlicher hervor, die Komposition wird transparenter. Es gibt weniger vollen Klang, dafür mehr Struktur und inneren Zusammenhang zu hören. Besonders interessant ist so ein Verfahren bei wuchtigen sinfonischen Werken, wie sie unter anderem Gustav Mahler hervorgebracht hat. Im 100. Todesjahr des österreichischen Komponisten wird seiner vor allem in diesem Monat mit Konzerten gedacht – Mahler starb am 18. Mai 1911 –, darunter die Kammerorchesterfassung seines „Lieds von der Erde“. Das Ensemble Resonanz aus Hamburg spielte sie vergangenen Dienstag, am Mittwoch legte das Berliner Ensemble mini-Mahler nach.
Mahler musste als Wegbereiter der Moderne einiges erleiden. Außer seiner für das frühe 20. Jahrhundert gewagten Musik war es vor allem seine jüdische Familie, die als Anlass für antisemitisch motivierte Ablehnung bis hin zu Karriererückschlägen herhalten musste – auch wenn Mahler aus Selbstschutz zum Katholizismus konvertiert war. Im Nationalsozialismus galt er als „entartet“. Heute ist Mahler längst als einer der letzten Vertreter der Romantik an der Schwelle zur Neuen Musik anerkannt. In seinem Werk deuten sich spätere Entwicklungen wie die Auflösung der Tonalität an. Zu den Bewunderern Mahlers gehörte Arnold Schönberg, der nicht nur die Zwölftonmusik als neues Kompositionsverfahren entwickelte, sondern auch Mahlers Musik für seinen „Verein für musikalische Privataufführungen“ bearbeitete. Da der Verein über kein eigenes Orchester verfügte, arrangierten Schönberg und seine Schüler die Kompositionen für Kammerbesetzungen.
Diese verschlankten Bearbeitungen bilden die Grundlage der Konzertreihe mini-Mahler, ein Projekt des jungen britischen Dirigenten Joolz Gale, der als Experte für historische Aufführungspraxis Erfahrungen mit kleinen Orchesterformaten sammeln konnte. Auch das vor neun Jahren gegründete Ensemble Resonanz griff für sein Programm im Konzerthaus auf Kammerfassungen von Mahler zurück. Während das mini-Mahler-Ensemble in seinem Konzert Mahlers „Lied von der Erde“ mit anderen Werken aus dem Repertoire von Schönbergs Verein kombinierte – Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faune“ und Max Regers „Romantische Suite“ –, konzentrierte sich das Ensemble Resonanz auf inhaltliche Verbindungen zu Mahlers später Komposition. So war neben dem Anfangssatz aus Mahlers unvollendeter Sinfonie Nr. 10 der an Mahler erinnernde „Gesang des Abgeschiedenen“ von Hanns Eisler zu hören.
Scharfe Kontraste
Anfängliche Bedenken, dass die für Mahler so charakteristischen scharfen Kontraste mangels Orchestermasse abgeschwächt werden könnten, zerstreuten sich bald. Statt als Mangel hört man die Fassungen als Angebot, Mahler und seine Zeitgenossen neu zu entdecken. Das „Adagio“ aus der zehnten Sinfonie mit seiner fragilen Melodie, bei der die Linien, statt ineinanderzugreifen, fast ineinanderzufallen scheinen, war beim Ensemble Resonanz noch zarter und gespenstischer als im „Original“, das Mahler allerdings nicht mehr selbst orchestrierte.
Beim „Lied von der Erde“ ist der reduzierte Ansatz noch nahe liegender, denn die mittleren Sätze sind ohnehin mehr Kammer- als große sinfonische Musik. Mahler, der das Stück im Wissen um eine unheilbare Herzkrankheit schrieb, gibt hier seine einstige Distanziertheit auf und wird sehr innig. Die Liedtexte –deutsche Fassungen alter chinesischer Lyrik – beleuchten verschiedene Facetten der Endlichkeit, schildern Schönheit, Jugend und Abschied. Aus dem Wechsel zwischen lebhaft-expressiven Sätzen, die vom Tenor gesungen werden, und stärker introspektiven Partien für Frauenstimme ergibt sich ein Spannungsbogen, den das Ensemble Resonanz unter Emilio Pomàrico vorbildlich halten konnte. Der dunkel gefärbte Mezzosopran Maite Beaumonts gab den jenseitigen Bildern den nötigen Ausdruck, während Andrew Kennedy die dramatischen Aspekte herausarbeitete.
Von diesem Spannungsbogen war bei mini-Mahler in der Philharmonie nichts zu merken. Gelang das anfängliche Stück Debussys noch lyrisch-zurückhaltend, merkte man spätestens bei Mahler, dass hier ein junges Ensemble aus Solisten agiert, das noch keinen gemeinsamen Klang gefunden hat. Gerade in den ruhigen, langsamen Passagen zerbröselte Gale die Musik buchstäblich unter den Fingern. Erschwerend hinzu kam, dass die Solisten Daniela Lehner und Edward Hughes heftig mit ihren Partien rangen. Schönberg hatte über den Schlusssatz „Der Abschied“ geschrieben, die Musik erinnere an Wörter, von denen jedes im Satz seinen eigenen Zweck habe. Hier hatte man hingegen den Eindruck, die Musiker und Sänger säßen vor den Noten wie vor einem fremden Text, dessen Bedeutung ihnen verschlossen bleibt.