„Ihre Haltung zu Arbeit ist elitär“

FEMINISMUS Die Journalistin Melissa Gira Grant ist eine der prominentesten Stimmen in der Debatte über Sexarbeit in den USA. Ihr Buch „Hure spielen“ stellt gleich mehrere Annahmen auf den Kopf, die auch in Deutschland die Debatte dominieren

■ ist freie Journalistin und ehemalige Sexarbeiterin. Sie schreibt über Sex, Politik und Technologie und veröffentlicht unter anderem in The Nation, The Atlantic, Wired und The Guardian. 2010 gründete sie den Verlag Glass Houses Press. In ihrem Buch „Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit“ fordert sie, SexarbeiterInnen nicht weiter unter dem Aspekt von Gewalt und Ausbeutung zu betrachten und anzufangen, Sexarbeit als das zu sehen, was sie ist: etwas, das Menschen tun, um in einer Zeit schwindender Optionen zu überleben. Ihre Webseite ist www.melissagiragrant.com.

INTERVIEW CHRIS KÖVER

taz: Frau Grant, was wäre gewonnen, wenn wir Sexarbeit als Arbeit betrachten würden?

Melissa Gira Grant: So lange wir Sexarbeit nur als Sexualität und Gewalt sehen, kommen wir nicht weiter. Wenn jemand etwas tut, um Geld zu verdienen, nennen wir das in jedem anderen Kontext Arbeit. Es gibt sicher Leute, für die Sexarbeit ausschließlich eine gewalttätige Erfahrung ist, aber das heißt nicht, dass es für alle so ist oder dass es keine Arbeit ist. Eine Ehe ist eine Ehe, auch wenn es darin zu Missbrauch kam. Eine Sweatshop-Arbeiterin arbeitet, auch wenn sie ausgebeutet wird. In anderen Kontexten können wir diese Komplexität akzeptieren, in der Sicht auf Sexarbeit fehlt sie.

Gerade für Feministinnen scheint es oft schwer, diese Komplexität anzuerkennen.

Ich dachte ursprünglich, das läge am Sex, aber inzwischen denke ich, es liegt an der Arbeit. Wenn große feministische Organisationen über Arbeit sprechen, dann geht es meist um gleichen Lohn für Männer und Frauen, ihre Haltung zu Arbeit ist elitär. Aber feministische Debatten über Arbeitsrechte können sich nicht nur darum drehen, mehr Frauen in Führungsetagen bekommen. Es geht um unser Recht, kollektiv zu verhandeln, ein Gehalt zu bekommen, von dem wir leben können. Feministinnen haben viele solcher blinder Flecken: Hausarbeit, Einzelhandel, all die Berufe, die in der Regel unterbezahlt von Frauen mit wenigen Optionen ausgeübt werden.

Ein Schlüsselbegriff in der Debatte ist Wahlfreiheit: Sind die Frauen arme Opfer oder ist Sexarbeit für sie eine Form der Selbstermächtigung?

Das ist eine Sackgasse. Wenn Magazine wie Emma sagen: Das sind arme, missbrauchte Frauen, die keine Kontrolle über ihr Leben haben, entspricht das der Vorstellung, die die meisten Menschen haben. Aber die richtige Antwort darauf ist in meinen Augen nicht, zu rufen: „Ich liebe meinen Job!“ Ob du deinen Job liebst oder nicht, ist irrelevant für die Frage, ob dir Rechte zustehen. Mein Eindruck ist, dass die Debatte über Sexarbeit als Auffangbecken dient für viele unserer eigenen Ängste. Es ist einfach zu sagen: wie schlimm, dass diese Frauen zur Ware gemacht werden, aber hey, warum sprechen wir nicht über deinen Job?

Sie beginnen das Buch mit einem Kapitel zu Polizeigewalt und schreiben über den Voyeurismus der Medien und die „Rettungsindustrie“.

Um die Konversation zu drehen. Um auf die Akteure zu schauen, die das Leben von SexarbeiterInnen gefährlicher machen, die Bedingungen gewalttätiger und den Zugang zu Gerechtigkeit schwieriger. Wenn SexarbeiterInnen ausgeschlossen sind von den Gesprächen über Gesetze, die sie beeinflussen, wenn sie ständiger Bedrohung vonseiten der Polizei ausgesetzt sind und wenn sie keine Ebene finden mit Leuten, die sich als progressiv begreifen, dann wird es für sie schwer, Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen. Sexarbeiterinnen – egal wo sie arbeiten – werden stigmatisiert und diskriminiert.

Das Stigma wird oft als die größere Belastung beschrieben als die Arbeit.

Ich habe auch keine konkreten Antworten. Aber offen über das Stigma zu sprechen, mit dem SexarbeiterInnen konfrontiert sind – selbst vonseiten derer, die sie unterstützen wollen –, ist eine der größten Herausforderungen.

Was können wir tun?

Feministinnen müssen sich klarmachen, dass SexarbeiterInnen die Debatten über ihre Arbeit bereits seit Langem führen – nur ohne sie. Es gibt eine ungebrochene Linie von SexarbeiterInnen, die sich organisieren, ihre Arbeit theoretisch einbetten. Feministinnen müssen das nicht neu erfinden. Sie müssen nur einen Raum schaffen, in dem das gehört wird und sicherstellen, dass jede Konversation über Sexarbeit von den Leuten angeführt wird, die tatsächlich Sexarbeit machen. Wenn Medien sich fragen: Wo ist die Sexarbeiterin, die mit uns spricht, dann denken sie schon falsch. Sie sollten sich eher fragen: Warum spricht keine bei uns über ihre Erfahrung mit Sexarbeit? Wovor müsste sie Angst haben? Ich habe in feministischen Organisationen gearbeitet und nichts über meine Arbeit zu der Zeit gesagt.

Ihr Buch ist bewusst kein biografischer Bericht.

Das ist ein zentraler Punkt. Das Buch sagt nicht: Das sind meine Argument für eine Politik von Sexarbeit basierend auf meinen persönlichen Erfahrungen. Es sind meine Argumente, basierend auf 40 Jahren politischer Organisation, geleistet von SexarbeiterInnnen. Es ist Journalismus, eine soziologische Analyse, eine Polemik, es ist keine Biografie. Die Art, wie wir SexarbeiterInnen ständig nötigen wollen, ihre Geschichten zu erzählen, erinnert mich daran, wie wir als Kultur mit Frauen umgehen, die vergewaltigt wurden. Sie sollen alles haarklein nacherzählen, sonst glauben wir ihnen nicht. Das muss nicht sein. Wenn ich SexarbeiterInnen interviewe, frage ich sie nach ihrer Erfahrung mit Polizei, ob sie Zugang zu Gesundheitsversorgung haben. Ich habe nie jemanden gefragt, was sie gemacht hat, wie oft oder ob sie es gut fand. Ich muss das nicht wissen, um über Menschenrechte zu sprechen.

Melissa Gira Grant: „Hure spielen. Die Arbeit der Sexarbeit“. Edition Nautilus, Hamburg 2014, 192 S., 14,90 Euro