Der Staatsfeind Nummer eins

Wolfgang Schäuble, Bundesinnenminister und Zeremonienmeister der Hysterie

Lange schon arbeitet Schäuble an dem Stück namens „Terror in Deutschland“

Eine gewaltige Explosion erschüttert das Berliner Regierungsviertel. Im Tiefgeschoss des Hauptbahnhofs ist in einem einfahrenden Zug eine Bombe explodiert. Hunderte Menschen werden getötet, viele verletzt. Teile des Gebäudes stürzen ein. Eine Panik bricht aus.

Bereits zwölf Minuten nach der Explosion wird RTL auf Sendung gehen, und RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel wird neben einem vorgefertigten Signet mit den Worten „Terror in Berlin“ verwackelte Bilder einer Kamera auf dem Dach des Hauptstadtstudios zeigen. Zu sehen sind allerdings nur einige Rauchwolken. Kloeppel ist deutlich der Stolz anzumerken, den RTL einige Tage später in einer Pressemitteilung verbreiten wird: „RTL bei Terroranschlag in Berlin als erster TV-Sender auf Sendung. Erneuter Beweis der News-Kompetenz. Marktanteil weiter ausgebaut“. Der Kölner Kommerzsender wird auch darauf hinweisen, dass RTL exklusiv am 29. April 2007 „unter Berufung auf zuverlässige Kreise“ gemeldet habe, es gebe „konkrete Hinweise auf einen geplanten Terroranschlag in Deutschland“.

Plötzlich schalten alle Sender, die inzwischen aus ihren Nachrichtenstudios von dem Ereignis berichten, nach Berlin. Denn als erstes Regierungsmitglied wird Wolfgang Schäuble vor die Presse rollen. Der Bundesinnenminister ergreift sogleich das Wort, geht aber zunächst auf die Opfer und die Angehörigen ein: „Lassen Sie mich zunächst persönlich und im Namen der Bundesregierung den Angehörigen der Opfer unser Mitgefühl aussprechen.“ Er wird die übliche Formel von der „Wut und Trauer“ über den abscheulichen Anschlag verwenden, dann einige wenige Fakten, die ihm inzwischen zugetragen wurden, ausbreiten und schließlich recht schnell auf die Konsequenzen zu sprechen kommen: „Es ist hier nicht der Zeitpunkt, über politische Konsequenzen zu sprechen, aber …“ Und dabei wird er mit ernster Miene dreinschauen, und zugleich diesen erstaunlich milden, ja gütigen und sanften Blick auflegen, der eins nicht verbergen kann, einen Gedanken, der über der ganzen Szenerie schwebt: „Habe ich es euch nicht immer wieder gesagt, dass es eines Tages passiert.“ Er wird es zwar niemals aussprechen, aber jeder weiß, was er denkt: „Hättet ihr mich nur gelassen, ich hätte es verhindert.“

Loben wird ihn am nächsten Tag in der Bild-Zeitung der Chefredakteur Kai Diekmann für seine entschlossenen Maßnahmen. Diekmann wird zugleich den Stolz erkennen lassen, dass man jetzt dazugehört: „New York, London, Madrid und jetzt Berlin. Deutschland ist Terrorziel. Wir sind ein Teil der westlichen Welt.“ Schließlich wird Diekmann alles auf seine Lieblingsformel reduzieren: „Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war!“

Nein! Nein! Nein! Und wieder einmal wird diese Formel so dreist wie gelogen sein. Denn selbstverständlich bleibt zunächst einmal alles so, wie es immer war. Die Machtverhältnisse in der Gesellschaft verändern sich nicht. Es wird auch weiterhin ein Oben und ein Unten geben. Nur soll die Hysterie der Ausnahmesituation dazu benutzt werden, die Macht einiger weniger noch zu verstärken – zum Beispiel mit polizeilichen Mitteln. Und breite Schichten der Gesellschaft werden es widerstandslos hinnehmen, weil sie zuvor bearbeitet wurden von einer medialen Inszenierung, die sich in drei Aufzüge teilen lässt: die Vorher-Hysterie, die Dabei-Hysterie und die Danach-Hysterie. Zeremonienmeister der Hysterie hoch drei aber ist Wolfgang Schäuble.

Lange schon arbeitet der Bundesinnenminister gemeinsam mit diversen Medien und sogenannten Experten an dem Stück mit dem Titel: „Terror in Deutschland“. Er hat ein Klima geschaffen, als ob Deutschland Tag und Nacht von Bombenexplosionen marodierender Terrorbanden erschüttert würde. Er zieht alle Register, um seinem Ziel näher zu kommen: dem Verdachtsstaat Deutschland.

Kann sich in diesem Land eigentlich noch jemand daran erinnern, dass der Bundesminister des Inneren eine grundlegende Aufgabe hat? Er ist zuständig für den Schutz der Verfassung. Ein Innenminister, der versucht, die Verfassung außer Kraft zu setzen, wäre der Staatsfeind Nummer eins. Nichts anderes aber scheint Schäuble zu wollen. Längst hat er die Membran durchstoßen, die es gibt zwischen dem Amt eines Innenministers und dem eines Polizeiministers. Was hat Schäuble nicht alles in letzter Zeit gefordert? Als polizeiliche Mittel sollen Zugriffe auf Passbilder und Fingerabdrücke, auf Mautdaten und private Computer und vieles mehr möglich sein. Für Schäuble ist jeder Bürger verdächtig, und wo ein Verdacht ist, gibt es Denunzianten. Das Land entwickelt sich zu einem elektronischen Spitzelstaat, während Schäuble zu einem Fouché wird.

Nur zur Erinnerung: Der napoleonische Polizeiminister Joseph Fouché hat sich mit kalter Schlauheit durch mehrere Gesellschaftssysteme hindurchlaviert und schließlich auf dem Höhepunkt seiner Macht einen gigantischen Spitzelapparat aufgebaut. Ein Durchlavierer ist auch Schäuble, der schon im System Kohl Innenminister war und auch einmal Partei- und Fraktionsvorsitzender der CDU, bis er in der CDU-Spendenaffäre, weil er einen Bargeldumschlag von einem Waffenhändler annahm, zurücktreten musste.

Am badischen Cleverle Schäuble blieb nie etwas hängen. Stattdessen sitzt Schäuble wieder im Amt des Innenministers. Nun allerdings versucht er, seine Macht wider die Freiheit des Einzelnen einzusetzen. Allein deshalb muss Schäuble gestoppt werden. Zum Beispiel in einer Ausnahmesituation: Sollte es irgendwann tatsächlich einen Terroranschlag in Deutschland geben, kann es in der Bevölkerung nur eine vernünftige Reaktion geben: völlige Gelassenheit. Terroristen wollen Menschen in Panik versetzen. Das ist ein Teil ihrer Inszenierung. Und dabei sind sich der Polizeiminister Schäuble und jeder Terrorist sehr ähnlich. MICHAEL RINGEL