Palimpseste und Surreales

In Zeiten der Digitalisierung heißt überschreiben immer auch löschen. Ändert man den Text einer Datei, wird die ältere Version unsichtbar und ihre elektronischen Spuren können allenfalls rekonstruiert werden. Als man noch auf Pergament schrieb und mit dessen begrenzter Speicherkapazität konfrontiert wurde – das Material war teuer –, kratzte oder wusch man die Schrift von alten Manuskripten ab, um Platz für neue Texte zu schaffen. Die Reste der älteren Handschrift blieben wie eine Hintergrundschicht erhalten.

„Palimpsest“ nennt man diese recycelten Schriftrollen, und die Idee des Überschreibens hat sich auch das junge Berliner Zafraan Ensemble für seine Einspielung „Palimpsesto“ zu eigen gemacht. Geboten werden Werke jüngerer spanischer Komponisten, die Musik stammt aus diesem Jahrhundert – mit einer Ausnahme: „Guárdame las Vacas“ des Renaissance-Komponisten Luys de Narváez erklingt in einer kammermusikalischen Bearbeitung von Miguel Pérez Iñesta, dem Klarinettisten des Ensembles. Hier wird das Konzept des Palimpsests am eindeutigsten auf Musik angewandt.

Auch die restlichen Werke von Hèctor Parra, Alberto Posadas, Juan María Cué und der in Berlin lebenden Komponistin Elena Mendoza lassen sich als mehrschichtige Musik verstehen, in der frühere Stile und Techniken aufgegriffen und erweitert werden. Dabei konzentrieren sie sich – mit recht unterschiedlichen Mitteln – auf das Erzeugen von Spannungsbögen und die Nuancierung des Klangs.

Einem spanischen, genauer: spanisch-mexikanischen, Künstler widmet sich ebenfalls das Album „Bunuel De Jour“ von Kalle Kalima & K-18. Kalima ist ein finnischer Musiker, der frisurbedingt einige Ähnlichkeit mit Helge Schneider aufweist, im Gegensatz zu diesem aber die Gitarre zu seinem Hauptinstrument gemacht hat.

Zudem ist Kalima in den verschiedensten Spielarten des Jazz zu Hause, für sein Tribut an den Filmemacher Luis Buñuel wählte er jedoch ein eher avantgardistisches Vokabular, um den surrealistischen Ansatz des Regisseurs angemessen in Musik zu übersetzen.

Jede Nummer ist nach einem Buñuel-Film benannt, von „An Andalusian Dog“ über „Belle de Jour“ bis zu „The Phantom of Liberty“. Mal drückt sich das in verträumten Melodien aus, öfter aber bestimmen Brüche und hektische Rhythmen das Geschehen. Eine sperrig-schöne Hommage. TIM CASPAR BOEHME

■ Zafraan Ensemble: „Palimpsesto“ (Testklang / Harmonia Mundi)

■ Kalle Kalima & K-18: „Bunuel De Jour“ (TUM Records)