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Archiv-Artikel

Punkige Elfen

BÜHNE Intendant Markus Müller startet im Mainzer Staatstheater mit Henry Purcells „The Fairy Queen“

Am Anfang steht eine Verführung. Der Intendant Markus Müller hat, aus Oldenburg kommend, zu Beginn der Spielzeit das Staatstheater Mainz übernommen. In Oldenburg fand sein engagiertes Programm nationale Beachtung. Mehr als 30 Mitarbeiter sind mit an den Rhein gezogen, was Ballettdirektor Honne Dohrmann auf eine „sehr hohe Arbeitszufriedenheit“ zurückführt: „Wir haben die Erfahrung gemacht, gemeinsam etwas bewirken zu können.“

Betörende Aufführung

Als passionierter Verfechter des Dreispartenhauses eröffnet Müller mit einem Gesamtkunstwerk aus Schauspiel, Oper und Tanz – mit Henry Purcells „The Fairy Queen“. Die sogenannte „Semi-Opera“ nach Shakespeares „Sommernachtstraum“ verbindet die Sparten eher aus Not als aus Tugend, war die Oper Ende des 17. Jahrhunderts in England doch verpönt. Im Großen Haus des Staatstheaters wird „The Fairy Queen“ in der Regie des Choreografen Jo Strømgren zum Coup in Sachen Selbstpräsentation und Publikumsbetörung. Das verschachtelte Spiel um Macht und Liebe wird gerahmt von zwei Königspaaren: Theseus, König von Athen, hat im Kampf die Amazonenkönigin Hippolyta bezwungen und ihr ein Ja abgerungen. Oberon und Titania, Herrscher der Elfen, trennt ein tiefer Zwist, der die Welt ins Chaos stürzt. Dazwischen irren mit wehenden Togen und brennenden Herzen die jungen Liebenden Helena, Hermia, Demetrius und Lysander umher – konsequent von zwei Schauspielern und zwei Sängern gespielt (hervorragend: Tenor Alin-Ionut Deleanu als Lysander).

Reduzierte Bühnenbildelemente verweisen auf die Antike, Sockel, weiße Bäume und Bänke, eine umgestürzte Säule (Bühne: Stephan Østense). In diesem White-Trash-Universum sind die Elfen Punks in schwarzen Glitzerkleidchen und mit knallroten Sturmfrisuren, das Tanzensemble kommentiert das Geschehen mit irrwitzigen Tänzchen und Mätzchen, dazwischen springt unberechenbar der tierhafte Puck umher (Matthia De Salve) und sprüht den Liebessaft stets in die falschen Augen.

All die bös-witzigen Bühnenscherze täuschen nicht darüber hinweg, dass in dieser kontrastreichen Welt aus weißen Togen und nachtschwarzer Elfenbrut die Gewalt regiert. Und in der Vereinigung der häuslichen Kräfte gelingt ein kurzweiliger Abend, der sehenden Auges verführt.

Zwei weitere Projekte hatten zuvor den Stadtraum erobert: Hausregisseurin Sara Ostertag erkundet bei der Audiotour „In Arbeit: Neustadt“ die Neustadt, ein ehemaliges Arbeiterviertel auf der Schwelle zur Gentrifizierung. Dabei wird sie ihrem hohen Anspruch nicht gerecht, Arbeit und Stadtentwicklung verbinden zu wollen – viel Sendungsbewusstsein trifft auf eine etwas brave Form. Das zweite Stadtraumprojekt heißt „evakuieren“, ein Mammutprojekt des japanischen Regisseurs Akira Takayama, das in Kooperation des Frankfurter Künstlerhauses Mousonturm mit den Staatstheatern Darmstadt und Mainz die S-Bahn-Stationen der gesamten Region bespielt. So finden sich an einer Busstation unweit des Mainzer Hauptbahnhofs vier Bildschirme, auf denen Autoren Geschichten zu den Wartenden entwerfen. Tippend, leise beobachtend, sitzen sie an ihren Laptops, Mariano Pensottis „Sometimes I think I can see you“ ist ein poetischer Kommentar des urbanen Treibens.

Auch der Eröffnung vierter Streich reicht in die Region: Carl Zuckmayers „Schinderhannes“ greift einen lokalen Mythos auf. Heute noch verorten wöchentliche Schinderhannes-Führungen die Geschichte des rheinland-pfälzischen Robin Hood in Mainz, die Identifikation ist hoch. Jan-Christoph Gockel inszeniert dessen Leben und Sterben als große Sause – und als ebensolche Entmystifizierung. Im Kleinen Haus wurden die ersten Zuschauerreihen entfernt und ein Western-Saloon eingebaut, die Hälfte des Publikums sitzt bei Wasser und Wein auf Bierbänken. Sehr erfolgreich hat Gockel hier 2013 die Geschichte der Brüder Grimm neu erzählt, allein sein Schinderhannes kommt ebenso langatmig wie unentschieden daher: Er schwankt zwischen humorigem Volksstück, düsterer Räuberpistole und altklugem Metatheater. Drei Stunden dauerte die Dekonstruktion des Helden als aalglatt-fieser Räuberhauptmann, gespielt von Sebastian Brandes.

Neue Intendantengeneration

Die Spielzeiteröffnung lässt sich als ambitionierter Dreiklang lesen: Man greift hinaus in den Stadtraum, verführt sein Publikum gesamtkünstlerisch und entzaubert seinen Lokalhelden. Es zeigt sich in Mainz auch eine neue Intendantengeneration, die die Auseinandersetzung mit der Stadt sucht, selbstverständlich künstlerische Gattungen verknüpft, Hierarchien infrage stellt und über die Grenzen des Stadttheaterbetriebs hinausschaut. Ein solch lustvoller Weitblick fordert und kitzelt, er macht Appetit auf mehr.

ESTHER BOLDT