Die Achse der House-Visionäre von Tim Caspar Boehme
Rekombination

Theo Parrish ist der Installationskünstler unter den House-Produzenten. Der ehemalige Kunststudent mit Erfahrung auf dem Gebiet der Klangskulptur wuchs in den Achtzigern in Chicago auf, wo er die Anfangstage von House Music erlebte und selbst als DJ auflegte. Klassisch klingen seine eigenen Produktionen aber trotz dieser prägenden Erfahrung nur in sehr eingeschränktem Sinn. Parrish, heute in Detroit zu Hause, probiert ständig neue Möglichkeiten, der Erstarrung des Genres entgegenzuwirken und House als Experimentierfeld lebendig und offen zu halten. Dabei schreckt er nicht davor zurück, den Viererbeat an seine Grenzen zu bringen, sei es durch gegen den Takt gesetzte Hihats oder scheinbar rhythmusfreie Instrumentenstimmen. Statt klinisch reinen Tanzflächenpfleger zu verkaufen, predigt Parrish konsequent das Dreckige, Heterogene von House. Bei aller Versuchslaborstimmung bleibt der Ursprung der Musik stets erkennbar, schafft es Parrish, aus jedem noch so verholperten Arrangement einen Groove zu meißeln, der einen jedoch nicht immer auf Anhieb ans Tanzen denken lässt. Für seine Schachtelbeats braucht man mitunter ein offenes Ohr, um sie als Aufforderung zur Bewegung entziffern zu können. Hinter den vermeintlichen Morsesignalen aber kann man Parrish als Meister seines Fachs entdecken.

■ Theo Parrish: „Sketches“ (Sound Signature)

Rekonstruktion

Man muss Rick Wilhite wohl als unauffällige Legende bezeichnen. Der Detroiter Produzent war schon seit den Achtzigern in der Techno-Szene seiner Geburtsstadt unterwegs, lernte über einen Job im Plattenladen die DJs der Motor City kennen, die er mit HipHop und House versorgte. Seit 15 Jahren veröffentlicht er unter seinem Namen Schallplatten und gehört wie die Detroit-Größen Theo Parrish und Moodymann zum Projekt Three Chairs. Doch anders als seine Kollegen fällt sein Name weit seltener, wenn von einflussreichen House-Musikern die Rede ist. Wilhite hielt sich im Hintergrund, was auch daran liegen könnte, dass erst jetzt ein komplettes Album unter seinem Namen erschienen ist. „Analog Aquarium“ will, wie der Name sagt, eine Lanze für analoge Klänge brechen. Ähnlich wie der befreundete Parrish setzt Wilhite auf das leicht Schmutzige, Unpolierte von herkömmlichen Produktionsmethoden aus der Prä-Laptop-Ära. Im Vergleich zu seinem experimentierfreudigen Mitstreiter ist Wilhites Musik übersichtlicher, weniger stark von Fliehkräften bestimmt. Seine Einflüsse reichen ebenfalls weit über die Grenzen von House hinaus, doch bleibt bei ihm ungeachtet aller Vielfalt der Groove immer klar erkennbar. Wilhite wahrt als Autor diskrete Zurückhaltung, was zugleich die Stärke seines Debüts ist.

■ Rick Wilhite: „Analog Aquarium“ (Still Music)

Dekonstruktion

Dass House nicht nur den geschichtslosen Zustand befreiten Feierns beschreibt, ist eines der großen Themen von Terre Thaemlitz. Der US-amerikanische Produzent und Aktivist, der seit einigen Jahren im japanischen Kawasaki lebt, bezieht schon seit seinen Tagen als Ambient-Musiker in den Neunzigern soziale und politische Themen wie Transgender und Schwulsein in seine Musik ein. „Routes Not Roots“ fasst als Titel Thaemlitz’ House-Verständnis gut zusammen: Statt einen mythischen offenen Ursprung von Chicago House zu beschwören, geht es ihm um ein Bewusstsein für die eigene Geschichte, den tatsächlich zurückgelegten, nicht unbedingt beschwerdefreien Weg. So erzählen seine Stücke von Gewalt, Arbeitslosigkeit oder HIV. Das entwaffnende Kunststück des Albums ist dabei, dass Thaemlitz trotz aller diskursiven Schwere verträumte elektronische „Fagjazz“-Skizzen, beunruhigende Spoken-Word-Collagen und ganz besonders Clubtracks von unbeschwerter Eleganz gelingen, die feinste emotionale Nuancen transportieren – wie jede große Musik. Diese Stücke sind so vollendet konstruiert, so intelligent und unbekümmert um Moden der Tanzflächen, dass man dem französischen Label Skylax dankbar sein muss, die bisher nur als Japan-Import erhältliche Platte endlich auch in Europa herausgebracht zu haben.

■ K.-S.H.E.: „Routes Not Roots“ (Skylax Records)