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: Ein paar Minuten für die Ewigkeit

In „After Life“ von Hirokazu Kore-eda müssen die Verstorbenen entscheiden, welche Szene ihres Lebens sie behalten wollen

Der Ort: ein ehemaliges Schulhaus, umfunktioniert zu einer Behörde für kinematografische Ewigkeitsbegleitung. Die Verstorbenen trudeln ein, sie treten aus einem milchig weißen Licht in das etwas heruntergekommene Gebäude, sie melden sich beim Pförtner, sie werden ihren Betreuern zugewiesen. Drei Tage haben sie Zeit, sich zu entscheiden, für den einen Augenblick aus ihrem Leben, von dem sie wie Faust denken: „Verweile doch, du bist so schön“. Dieser Moment wird dann mit den einfachsten Mitteln umgesetzt in einen Erinnerungsfilm, den die Verstorbenen nach einer Woche aus dem Nachlebensraum mitnehmen, als alles, was bleibt aus den Leben. Alles andere, der ganze Rest von der Geburt bis zum Tod, wird vergessen sein, in der Ewigkeit, die zu diesem Moment des Glücks, der auf Film gebannt wird, gerinnt. Von dieser Ewigkeit zeigt der Film nichts, man sieht nur die Dreharbeiten noch und die Vorführung der Erinnerungsfilme im Kinosaal, aus dem die Figuren dann verschwinden.

Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda setzt in „After Life“ diesen so ganz und gar fantastischen Plot-Einfall mit den Mitteln des Dokumentarfilmers um. Der Film gibt sich so als realistische Besichtigung eines Orts, den es nicht gibt. Wir beobachten die Gespräche zwischen Betreuern und den soeben Verstorbenen, mehr oder minder gefasst sind sie alle. Was nicht heißt, dass sie zur Entscheidung für ihren Moment auch bereit sind. Ein älterer Herr findet sein Leben im Rückblick so trostlos, dass er alles vergessen will. Er bekommt, als Erinnerungsstütze, einen Stapel mit Videokassettenaufzeichnungen zur Hand, 71 Fragmente einer Chronologie seines Lebens – und findet dann doch eine Szene, die er, reinszeniert, mitnehmen will. Ein viel jüngerer Mann, rebellisch gesinnt, verweigert die Entscheidung.

Es erweist sich als großartige Idee Kore-edas, die fantastische Prämisse dokumentarisch zu erden und, umgekehrt, den dokumentarischen Gestus durchs Fantastische zu verfremden. Tatsächlich sind viele der oft ganz banalen Erinnerungen, von denen die Charaktere berichten, wahre Begebenheiten aus den Leben der Darsteller, die teils professionelle Schauspieler sind, teils Laien. Die durch die Nachlebensfiktion ermöglichte Distanzierung und Fokussierung schärft den Blick für den Wert eines jeden Moments eines jeden Lebens – und verhindert zugleich alle falsche Intimität. Exemplarisch scheinen die zur Aufbewahrung gewählten Momente gerade darin, dass sie für den, der sie nicht erlebt hat, gar nichts Besonderes sind. Gerade um diese Differenz zwischen subjektiver und „objektiver“ Perspektive geht es Kore-eda, wenn auch nie im Behauptungston. Der Film will nicht klüger sein als seine Figuren. Er öffnet einen transitorischen Raum, ermöglicht ausschnitthaft den Blick auf ganz normale Leben und zeigt die unterschiedlichsten Weisen, mit der eigenen Vergangenheit umzugehen.

Nicht zuletzt ist „After Life“ auch ein sanftes Manifest für das Kino als Medium der Bewahrung des Realen. Es gibt einen Dokumentarfilm von Kore-eda über einen Mann, der nach einem Unfall nur noch sein Kurzzeitgedächtnis hat. Alles, was er erlebt, verschwindet nach etwa zehn Minuten für ihn im Vergessen, als wäre es nie gewesen. Das ist im Grunde die Drohung, der sich die Konstruktion des kinematografischen Übergangsraums in „After Life“ widersetzt. Anders gesagt, geht es um nicht weniger als ein Projekt der filmischen Errettung der Wirklichkeit. Das Kino, das schreibt Kore-eda allen naiven Realisten ins Stammbuch, ist ein künstliches Arrangement zur medialen Aufhebung von Fragmenten und Momenten vergehenden Lebens. Und doch hält es, gerade wenn es um diese Künstlichkeit weiß, etwas fest, das sich sehr wohl als „real“ beschreiben lässt. „After Life“ erbringt nicht weniger als den Beweis dieser These. EKKEHARD KNÖRER

„After Life“. Regie: Hirokazu Kore-eda. Mit Arata u. a. Japan 1998, 115 Min. Die DVD ist im Handel erhältlich, zum Beispiel bei amazon für 17 Euro.