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Archiv-Artikel

„Jongleur mit zwei Bällen“

Zum 80. porträtiert die ARD Hans-Dietrich Genscher als Politiker und als Privatier („Mr. Bundesrepublik“, 23.15 Uhr)

Was er nicht preisgeben mag, das gibt er nicht preis. Auch nicht kurz vor dem 80. Geburtstag. Warum er 1992 nach 18 Dienstjahren als Außenminister überraschend zurückgetreten ist? „Es war eine wirklich abgewogene Entscheidung“, sagt Hans-Dietrich Genscher. Ach so. Enthüllungen sind seine Sache nicht – so wenig wie Selbstkritik. Das Blutbad bei den Olympischen Spielen in München 1972, als Genscher Innenminister war? Die von ihm als Außenminister betriebene Anerkennung von Slowenien und Kroatien?

Hans-Dietrich Genscher rechtfertigt umstrittene Entscheidungen nicht. Mehr noch: Er erweckt den Eindruck, dass sie aus seiner Sicht gar keiner Erklärung bedürfen. Ein Film über einen solchen Mann droht sehr langweilig zu werden. Aber die Dokumentation, die die ARD heute zeigt, ist nicht langweilig, sondern eine bewegende Geschichtsstunde und ein eindrucksvolles Porträt zugleich. Das ist vor allem dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass hier zwei Leute zusammengearbeitet haben, die mit professionellen Pfunden ganz unterschiedlicher Art wuchern können. Die Filmemacherin Ulrike Brincker hat viel Erfahrung mit Biografien. Und Gunter Hofmann von der Zeit ist einer der kenntnisreichsten Chronisten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Ergebnis: ein niemals indiskretes und dennoch persönliches Bild.

„Mr. Bundesrepublik“ ist der Titel der Dokumentation – und genau das war Genscher ja auch in den Augen der Weltöffentlichkeit. Jahrzehntelang. Er hat das Bild von Westdeutschland geprägt. „Seine Lehrjahre und die Lehrjahre der jungen Bundesrepublik verliefen parallel“, heißt es im Film. 1952 tritt der Jurist der FDP bei, 1969 wird er Innenminister unter Willy Brandt, später Außenminister unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Die Formulierung mag er übrigens nicht: „Unter Kanzlern habe ich nie gearbeitet.“ Die Betonung liegt auf: „unter“.

Selbstbewusst präsentiert sich Genscher. Fast unangreifbar. Und wird doch angegriffen: Er habe Druck auf Menschen ausgeübt. Manche seien daran „zerbrochen“. Das sagt ausgerechnet Jürgen Chrobog, langjähriger Sprecher des Auswärtigen Amtes und ehemaliger Büroleiter von Genscher. Aber er sagt auch: „Er war ein Meisterjongleur mit zwei Bällen.“ Heute fliegen mehr Bälle durch die Luft. Aber zu Genschers Zeit ging es um einen Kampf der Giganten. Die Ostpolitik war „unser Beitrag, die Mauer zum Einsturz zu bringen“, meint er selbst. Daran lag ihm auch persönlich viel. Genscher stammt aus Ostdeutschland. Im Industriegebiet von Halle ist heute eine Straße nach ihm benannt. Als Kind ist er in dieser Gegend Fahrrad gefahren. Er war nämlich niemals nur „Mr. Bundesrepublik.“ Auch das zeigt dieser Film. BETTINA GAUS