: „Übergewicht ist kaum behandelbar“
Der Kinderarzt Martin Wabitsch fordert, Kinder besser vor Dickmachern zu schützen. Denn Mollige werden die Pfunde kaum wieder los. Statt Dicke zu stigmatisieren, müsse man Druck auf die Industrie ausüben und Werbung für Süßigkeiten eindämmen
MARTIN WABITSCH, geboren 1963, arbeitet an der Kinderklinik und Poliklinik der Universität Ulm. Er ist Experte für Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen. Seit Jahren erforscht er dessen Ursachen und Folgeerkrankungen.
INTERVIEW COSIMA SCHMITT
taz: Herr Wabitsch, mit dem Plan „Fit statt fett“ will die Regierung die Bürger zu einem figurbewussteren Lebensstil anleiten. Kann nicht jeder Mensch selbst entscheiden, was er isst?
Martin Wabitsch: Zumindest bei Kindern ist die Lage anders. Sie können nicht abschätzen, wie gesund ein Schokoriegel ist. Sie tun das, was Erwachsene ihnen vorleben.
Kinder sollen also vor den Ernährungssünden ihrer Eltern bewahrt werden?
Es wäre jedenfalls hilfreich, wenn Süßigkeiten nicht ständig verfügbar wären.
Verbraucherminister Horst Seehofer setzt bei seinem Plan auf Aufklärung. Neue Verbote lehnt er ab. Ist das der richtige Weg?
Natürlich ist Aufklärung wichtig. Man sollte versuchen, über Kitas und Schulen die Eltern zu erreichen. Aber wissenschaftliche Studien belegen klar: Dass man – wie in dem neuen Aktionsplan vorgeschlagen – Wissen vermittelt, die Eigenverantwortung stärkt, reicht nicht aus.
Kann der Staat den Speiseplan seiner Bürger denn überhaupt beeinflussen?
Man kann den Leuten nicht vorschreiben, was sie essen sollen. Aber einiges kann man schon tun. Supermärkte sollten Süßigkeiten nicht neben der Kasse platzieren dürfen. Gut finde ich auch das Ampelsystem, das Großbritannien gerade erprobt.
… also das Kennzeichnen von Lebensmitteln mit roten, gelben oder grünen Punkten, je nach Zucker- und Fettgehalt …
Genau. Das bräuchten wir auch in Deutschland. Aber ohne Druck wird das die Industrie nicht mal eben so einführen.
Viele empfehlen ja den in Schweden praktizierten Weg: Die an Kinder gerichtete Lebensmittelwerbung strengen Auflagen zu unterwerfen.
Das finde ich sehr gut. Kindernahrungsmittel sind eine Erfindung der Industrie. Aus wissenschaftlicher Sicht existieren sie nicht. Ab zwei Jahre ernähren sich Kinder wie Erwachsene. Sie brauchen keine speziellen Nahrungsmittel. Umso wichtiger ist es, dass die Werbung für solche Produkte aus dem Kinderfernsehen verbannt wird.
Ist es überhaupt sinnvoll, Kinder von Süßem fernzuhalten? Sollten sie nicht lieber den bewussten Umgang mit Schokoriegel und Co. erlernen?
Natürlich spricht nichts dagegen, Kindern auch mal was Süßes zu geben. Aber eben nicht ständig. Ein Schokoriegel ist keine Zwischenmahlzeit. Es ist ein Snack. Er dient der Lustbefriedigung, der Motivationssteigerung, nicht dem Sattwerden.
Werden tatsächlich schon in der Kindheit die Weichen gestellt, ob ein Mensch schlank oder dick durchs Leben geht?
Einen kleinen Einfluss hat schon die Versorgung des Fötus im Mutterleib. Und Kinder, die gestillt werden, haben ein geringeres Risiko, später dick zu werden. Aber das sind eher geringe Effekte. Bedenklicher ist ein Trend, den wir derzeit beobachten. Es ist normal, dass viele Kinder mit zwei Jahren recht mollig sind. Dann aber wandelt sich das Bild. Mit sechs Jahren ist ein Kind üblicherweise spindeldürr. Neuerdings aber haben immer mehr Kinder schon bei der Einschulung viel auf den Rippen.
Gibt es genügend Hilfsangebote für solche Kinder?
Konsensfähig ist unter allen Parteien das Ziel, schon in der Schule für mehr Wissen über Ernährung und für mehr Bewegung zu sorgen. Dies solle wichtiger und regelmäßiger Bestandteil des Schulunterrichts werden, sagte Verbraucherminister Horst Seehofer (CSU) gestern im Bundestag. Dafür werbe er bei den zuständigen Kultusministern der Länder. Von dort kommt allerdings Widerstand gegen ein eigenes Schulfach Ernährung. AP
Es gibt gute Programme wie Obeldicks oder Moby Dick. Ein Problem ist, dass es zwar in Städten genügend Angebote gibt – nicht aber auf dem Land.
Wie groß sind denn die Chancen, dass ein stark Übergewichtiger wieder schlank wird?
Sehr gering. Nur etwa 10 Prozent der Übergewichtigen schaffen es, ihr Gewicht dauerhaft zu normalisieren. Im Prinzip ist Übergewicht nicht behandelbar.
Man kann also schon zufrieden sein, wenn ein Kind dank eines Diätprogramms wenigstens nicht noch dicker wird?
In vielen Fällen ja.
Braucht es da nicht eine tolerantere Sicht auf Körper jenseits der Normalmaße?
Absolut. In Amerika ist das etwas besser. Da sind Übergewichtige eher respektiert. Hier aber glauben die Leute oft, dass sich ein Dicker nur zusammenreißen muss, damit er wieder schlank wird. Das verkennt, wie wichtig Veranlagung und äußere Einflüsse sind. Wir müssen aufhören, Dicke zu stigmatisieren.