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Archiv-Artikel

Die Zeit, als Zürich brannte

„Wo-Wo-Wonige“: Thomas Stahel beschreibt die Geschichte der Züricher Häuserkämpfe

Zürich war einst eine Hochburg des Häuserkampfes. Noch 1991, als sich der Traum der Berliner Autonomen von selbstbestimmten, staatsfreien Räumen längst in der Schlacht um die Mainzer Straße aufgelöst hatte, geschah auf dem Wohlgroth-Areal, einer ehemaligen Gaszählerfabrik im Zürcher Kreis 5, die größte in der Schweiz jemals erfolgte Besetzung. Über ihre zweijährige Dauer hinweg besaß sie eine beachtliche Ausstrahlung auf die linke Szene selbst jenseits der Landesgrenzen.

Im Unterschied zu manch anderen Orten urbaner Revolten am Ende des 20. Jahrhunderts gab es in Zürich stets auch so etwas wie eine Engführung zwischen militanten Aktionen und der analytischen Betrachtung der Krise des Städtischen. Im Kampf um Platz für die aufkeimende jugendliche Gegenkultur professionalisierten sich in den Siebzigerjahren nicht wenige Aktivisten zu regelrechten Stadtforschern. Mit Zürich als ihrem Fallbeispiel stellten sie das Dogma der räumlichen Trennung von Wohnen, Freizeit und Arbeiten in Frage, da es das patriarchalische Geschlechterverhältnis zementierte und für einen umweltbelastenden Anstieg des Automobilverkehrs sorgte. Teilnehmer an den gewalttätigen Protesten von 1980/81 gegen das anhaltend verschnarchte bis reaktionäre Klima in Zürich wiederum charakterisierten die daraufhin erfolgte kulturelle Öffnung als nachholende Modernisierung im Umbau der Stadt zu einem Knotenpunkt der globalisierten Ökonomie.

Diese Linie setzt der Historiker Thomas Stahel fort. Im Zuge der Wohlgroth-Besetzung selbst zum Aktivisten geworden, wirkte er in den vergangenen Jahren in mehreren Initiativen mit, die Interventionen im städtischen Raum mit der wissenschaftlichen Betrachtung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen kurzzuschließen versuchte. Nun hat er in seinem Buch „Wo-Wo-Wonige“, das aus einer Promotion entstanden ist, die Geschichte der stadt- und wohnpolitischen Bewegungen Zürichs seit 1968 aufgeschrieben.

Mit Hilfe einer eindrucksvollen Zusammenstellung von rund 250 Fotos sowie Reproduktionen von Plakaten, Flyern und Karikaturen aus dem Innenleben der Bewegungen gelingt es Stahel, vor allem auch die Ereignisse der Siebzigerjahre anschaulich zu machen: Proteste gegen Kahlschlag, die Arbeit der von marxistischen Kadern geprägten Quartiersgruppen, Kommunegründungen und erste Hausbesetzungen, bei denen sich Klassenkämpfer und Spontis gegenseitig beharkten. In dieser Phase, so Stahel, nehmen die stadt- und wohnungspolitischen Bewegungen einen stark emanzipatorisch-revolutionären Charakter an, während sie über ihren gesamten Verlauf in der Grundhaltung letztlich doch als defensiv bezeichnet werden können.

Mieterhöhungen und Luxusrenovierungen mussten abgewehrt, Häuser vor der Spekulation gerettet und die soziale und funktionale Durchmischung der zentrumsnahen Gründerzeitviertel beschützt werden. Kurz: Es wurde sich gegen die an das wirtschaftliche Wachstum der Stadt gekoppelte Verknappung preiswerten Wohnraums, wie sie in Zürich herrschte, gewehrt. In Zürich kollidierten dabei die sich wandelnden Interessen einer jungen und einkommensschwachen Bevölkerung besonders heftig mit dem Expansionsdrang des boomenden Finanz- und Dienstleistungssektors. Die im Jahrzehnt zuvor eingeführten Aktionsformen kamen so zur vollen Blüte.

Hausbesetzungen waren nur die offensivste Mobilisierungsstrategie der Bewegungen. Stahel beschreibt ebenso ausführlich die Arbeit von Mietergruppen und -initiativen, die Praxis des Auszugsboykotts und die Welle von Demonstrationen gegen die Wohnungsnot am Ende der Achtzigerjahre, so genannte Aufläufe gegen Speckis.

Versuche der Bewegungen, über das Mittel der direkten Demokratie Einfluss zu nehmen, hatten nur begrenzten Erfolg. Jahrelang herrschte in Zürich ein politisches Patt hinsichtlich stadt- und wohnpolitischer Fragen. Im Zusammenspiel mit der linken Opposition im bürgerlich dominierten Gemeinderat gelang es zwar, in Volksabstimmungen auf kommunaler Ebene die schlimmsten baulichen Monstrositäten zu verhindern. Doch die konservative Mehrheit im Kanton kippte andererseits städtische Gesetze, die einen zu radikalen Mieterschutz vorsahen, oder Planungsvorgaben, die sie als zu investorenfeindlich erachtete.

Insgesamt aber, so der Autor, mangelte es den noch so vielgestaltigen Auftritten der Bewegungen in Zürich an langfristigen planerischen Utopien. Dafür sorgte neben der polizeilichen Repression auch eine hedonistisch geprägte Abneigung gegen jede Art von Institutionalisierung. Immerhin stammt aus ihren Reihen die auch im bundesdeutschen Alternativmilieu der Achtzigerjahre diskutierte Idee der autarken Siedlungsform namens bolo'bolo von Szeneautor p.m. Bestehende Stadtstrukturen sollten in kleinere kommunale Einheiten mit basisdemokratischer Verwaltung, Selbstversorgung sowie direktem Waren- und Dienstleistungstausch mit ihren ländlichen Pendants geteilt werden. Nachdem verschiedene Protagonisten der Bewegungen schließlich den Weg vom Besetzer zum Häuser kaufenden oder gar bauenden Genossenschaftler angetreten hatten, fand diese Idee einen schwachen Nachhall in Form von Gemeinschaftsküchen, Konsumdepots und Solardächern der innerstädtischen Wohnprojekte, in denen gegenwärtig zwischen 50 und 240 Personen leben.

Gerne wird behauptet, dass sozialen Bewegungen der Totenschein ausgestellt werden kann, wenn sie erst einmal in den Blick der Forschung geraten sind. Allerdings ist in vielen deutschen Großstädten der stadt- und wohnpolitische Aktivismus von unten längst erlahmt, ohne dass sich dort jemals aufgemacht wurde, die lokalen Bedingungen und Ausprägungen dieses Aktivismus wissenschaftlich abzuklopfen. In Zürich dagegen sind immer noch Häuser besetzt, obwohl Stahel feststellt, dass sie von den Betreibern zumeist auf ihre Funktion als Anlaufstelle im blühenden und selbst vom US-Reiseführer „Lonely Planet“ angepriesenen Zürcher Nachtleben reduziert werden. „Downtown Switzerland“ hat heute den Ruf, eine der europäischen Städte mit der höchsten Lebensqualität zu sein. Dazu haben nicht zuletzt die stadt- und wohnpolitischen Bewegungen beigetragen. Doch die Früchte ihrer Kämpfe sind gefährdet. Die Stadtregierung ist seit Jahren fest in sozialdemokratischer Hand, befindet sich aber auf striktem Wachstumskurs. Stahels Erinnerung an historische Bewegungsmomente kann Hilfestellung leisten, neue Widerstände zu schärfen. OLIVER POHLISCH

Thomas Stahel: „Wo-Wo-Wonige! Stadt- und Wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968“. Paranoia city Verlag, Zürich 2007, 462 Seiten, 30 Euro