: Ein Denker des wirklichen Scheins
Das Simulakrum galt ihm als die natürliche Umgebung des Menschen – der Philosoph Jean Baudrillard ist am Dienstag in Paris gestorben
VON INES KAPPERT
Man braucht nur einige Schlagworte zu nennen, „Simulakrum“, „Agonie des Realen“ oder „Aufstand der Zeichen“, und sofort tritt sein Name aus dem Nebel des Fastvergessenen klar umrissen hervor: Jean Baudrillard. Der 1929 in Reims geborene Soziologe und Philosoph zählte in den 80er- und 90er-Jahren zu den heiß umstrittenen Denkern aus Frankreich. Vorgestern ist er in Paris gestorben.
Baudrillard und seine Anhänger erklärten die Moderne für beendet, da für tendenziell gescheitert, und brachten in der Folge die Postmoderne in aller Munde. Jean Baudrillard, Paul Virilio, Jean François Lyotard und einige mehr: Sie alle haben die ganz großen Fragen gestellt: Was ist Realität? Was Wahrheit? Und wenn der Mensch nicht sicher sein kann, was wahr und was real ist, welche Orientierung bieten diese Begriffe dann überhaupt noch an? Baudrillards Antwort lautete: Die Wahrheit, das Wahre und das Echte – das alles sind Konzepte von gestern. Heute geht es um den Schein. Das Simulakrum, wie er es nannte, ist die natürliche Umgebung des Menschen, infolgedessen nach seiner Herstellung, also nach der Simulation zu fragen ist.
Nun gibt es zwischen den Theoretikern der so genannte Postmoderne himmelweite Unterschiede. Man sollte nicht leichtfertig versuchen, die von ihnen verfassten Schriften in einer großen Sammel- und Aufräumbewegung in einen Topf zu werfen, auf dem das Etikett „Postmoderne“ klebt. Baudrillard etwa zeichnet aus, dass er in einer großen Absatzbewegung vom dialektischen Denken und auch vom Marxismus die Welt unhintergehbar als ein Zusammenspiel von künstlich erzeugten Zeichen-Welten beschreibt. An die Stelle von Marx tritt bei ihm der Linguist Saussure, an die Stelle des Wahren und der Ware treten das Zeichen und der Code. Die Natur ist als Lebensraum nicht mehr wichtig, was zählt, ist das Urbane. Und auch das hat sich selbstverständlich verändert: „Die Stadt ist nicht mehr das politisch-industrielle Vieleck, das sie im 19. Jahrhundert gewesen ist – heute ist sie ein Vieleck aus Zeichen, Medien und Codes.“ Diese Feststellung trifft Baudrillard in „Kool-Killer – oder der Aufstand der Zeichen“ (1975). „Infolgedessen“, fährt er fort, „liegt ihre Wahrheit nicht mehr in einem geographischen Ort wie der Fabrik oder etwa dem traditionellen Ghetto. Ihre Wahrheit […] ist überall. Sie ist das Ghetto des Fernsehens und der Werbung, das Ghetto der Konsumenten/Konsumierten […] der Zerstreuer/Zerstreuten der Freizeit.“ Viele der hier verwendeten Begriffe gehören heute zum Alltagsvokabular: Code, das Virtuelle, der Cyberspace. Bei Baudrillard heißt das noch „Hyperrealität“.
Das Provozierende an seinen Theorien ist nicht zuletzt die Geste der Affirmation. Dass es nichts mehr außerhalb der glitzernden Stadtoberflächen, der Scheinwelten des Konsums geben soll, das ist für ihn kein moralisches Problem. Und genau darin besteht die moralische Provokation für seine LeserInnen. Zumal er weiterhin die Begriffe Wahrheit, Realität und Identität verwendet, nur eben jetzt in seinem mal ironisierenden, mal zynischen Sinne. Denker wie er fordern heraus, weil sie behaupten, dass wahr und falsch letztlich ununterscheidbar sind. Die Dinge seien immer beides, real und trügerisch, sie seien wirklicher Schein. Damit gelte es sich abzufinden. Denn, so die Behauptung: Es gibt nichts hinter den Zeichen, hinter dem Signifikat, hinter dem Produkt, hinter dem Schein also. Baudrillard plädierte dafür, sich im Simulakrum einzurichten. Sein System expandiert nicht mehr, es implodiert. Alle Sicherheiten – Gott, Sinn, Welt, Realität, Ich – werden in Frage gestellt und mit einer neuen Bedeutung aufgeladen.
So zumindest lautet der Anspruch. Das Problem liegt dabei im Apodiktischen, welches entschieden das Durchstreichen der Wahrheit wenn schon nicht für wahr, dann für unhintergehbar richtig erklärt. „Hier gibt es keinen GOTT mehr, der die Seinen erkennt, kein JÜNGSTES GERICHT, das das Wahre vom Falschen und das Reale von seiner künstlichen Auferstehung trennt, denn alles ist bereits tot und von vornherein wieder auferstanden“, heißt es in dem Text „Die Präzision der Simulakra“. Man könnte diese Passage so verstehen: Die toten Medienbilder sind das Lebendigste, das wir haben. Wenn aber die von Lukács noch betrauerte transzendentale Obdachlosigkeit das Sein des Menschen bestimmt, wenn seine Verankerung im irdischen Schein unhintergehbar ist, dann ist die bunte Warenwelt kein Unfall, sondern die notwendige Konsequenz.
Dass diese Selbstgenügsamkeit der im theologischen Sinne sinnlosen Codes und Moden durchaus gestört werden kann, darauf verweist für Baudrillard nicht zuletzt das Graffiti. Bis heute hält sich der Wunsch nach einer Stadt, die gesäubert ist von Zeichen, die der normale Konsument nicht versteht. Nicht zuletzt wegen seiner „verschmierten“ Wände ist Berlin für viele eine Irritation. Für Baudrillard, der das Phänomen im New York der 70er-Jahre beobachtete, sind die gesprühten Zeichen ein Zeichen für die Macht der Zeichen. Und er mag sie. Denn Irritationen, zumal die plakativen, fanden immer seine Sympathie.
Sonst lehnte er jedwede Form des politischen Engagements ab. Seinen Text „Pavane für eine Göttliche Linke“ von 1978 beschließt er lakonisch: Er sei kein Aktivist. Die Zeit der Partie Communiste sei abgelaufen, auch wenn sie die „die schönste aller beschützenden und therapeutischen Institutionen der abendländischen Welt ist“.