Gut komponiertes Missverstehen

URAUFFÜHRUNG Harfenklänge für den Mythos, Klingeltöne für die Gegenwart: Die Neuköllner Oper transportiert mit der deutsch-katalanischen Koproduktion „Bazaar Cassandra“ die Sage von Kassandra in unsere Zeit

Die Schwächen der Kommunikation illustriert der exzessive Handygebrauch

VON KATHARINA GRANZIN

Eine Harfe sieht man in Neukölln auch nicht alle Tage. Nicht einmal in der Neuköllner Oper. Als eines der ältesten Musikinstrumente der Menschheit ist das langsaitige Zupfinstrument auch heutzutage noch stets von einem leicht mythologischen Hauch umweht. So ist es sehr passend, dass der katalanische Komponist Enric Palomar der Harfe in der aktuellen Neuköllner Produktion „Bazaar Cassandra“ eine musikalische Hauptrolle zugewiesen hat. Sie ist das Instrument der Weissagung, das Schwirren der Stimmen, das Raunen der Welt im Kopf von Kassandra, der Seherin, die in dieser Kammeroper in einer modernisierten Version auftritt.

„Bazaar Cassandra“, eine Uraufführung in der Neuköllner Oper, ist eine deutsch-katalanische Koproduktion. Auch der Librettist Marc Rosich stammt aus Barcelona.

Schon der Einstieg ist spannend, voller Missverständnisse und fehlgeleiteter Emotionen. Cassandras Tochter Alcipe (Marielou Jacquard) beschwört den Musikstudenten Frank (Linard Vrielink), mit dem sie kurz zuvor mal im Bett gelandet ist, nicht in das Flugzeug zu steigen, mit dem er und seine Eltern in den Urlaub fliegen wollen. Doch der verwöhnte junge Mann will nichts hören, sondern nur den amourösen Zwischenfall reichlich ruppig wieder aus der Welt räumen.

Wie sehr Autor und Komponist Hand in Hand gearbeitet haben, zeigt sich exemplarisch schon in dieser Szene. Wenn die anfängliche Befremdung darüber überwunden ist, dass die beiden DarstellerInnen zwar einwandfrei singen, aber ein mit unterschiedlichen Akzenten behaftetes Bühnendeutsch deklamieren, ist man frei, vorbehaltlos zu genießen, wie sehr sich hier Gesang, Instrumentalmusik (das Kammerensemble unter Leitung von Hans-Peter Kirchberg spielt bravourös) und gesprochene Sprache zu einem organischen dramatischen Ganzen fügen.

Auch die gesprochenen Dialoge sind grundsätzlich Teil der Gesamtkomposition. Palomars „Cassandra“ ist eine durch und durch szenisch gedachte Musik, die unterschiedlichste dramatische Zustände annehmen kann und deren Ausdrucksrepertoire, auch durch ausgesprochen variablen Einsatz der Instrumentierung, sehr breit ist. Wie die Instrumente, so stehen auch die Singrollen in permanentem Dialog miteinander. Allein Cassandra hat lange Passagen zu singen, alle anderen bestreiten nur kürzere solistische Momente.

Trotz allem werden im Laufe des Abends ein paar Längen spürbar. Das Geplänkel der jungen Leute zu Beginn war tatsächlich nur der Einstieg in die bedeutendere Konfrontation Cassandras, die mehr schlecht als recht einen Secondhandladen betreibt. Sie erhält eines Tages Besuch vom Vater des Studenten, der ihre Tochter Alcipe verdächtigt, die Geige seines Sohns gestohlen zu haben. Die hatte Frank in der Verwirrung über die Prophezeiung des Flugzeugabsturzes im Bus vergessen – weshalb die Familie den Flug verpasste und den Absturz überlebte.

Das alles wird nach und nach aufgedröselt, und es dauert eine Weile, bis allen klar ist, was passiert ist und wer was wann gewusst hat. Dass die zwischenmenschliche Kommunikation so ihre Schwächen hat, wird hübsch illustriert mithilfe exzessiven Handygebrauchs auf der Bühne. Verschiedene Klingeltöne gehen in die Partitur mit ein, und die ausgedehnte Szene, in der sich vier Personen auf verschiedenen Seiten des so variablen wie minimalistischen Bühnenbilds – einer durchsichtigen Wand –, gegenseitig am Telefon zu verstehen versuchen, ist von schon fast verzweifelter Komik.

Die Offline-Kommunikation zwischen Cassandra und dem Vater des Studenten wiederum scheitert tragisch. Dass dieses Scheitern allerdings in eine Vergewaltigung mündet, hat seinen inhaltlichen Anker zwar in der mythologischen Vorlage, irgendwie aber gar nicht in der Dramaturgie des Stückes selbst.

Regisseur Mario Portmann setzt diese unvermittelte physische Attacke denn auch merkwürdig beiläufig in Szene. Ist ja auch ein unerklärlicher Rückfall in physisch dominierte archaische Muster, nachdem doch die ganze Zeit so ausdauernd psychologisiert und die Entfremdung der modernen Menschen voneinander vorgeführt worden war. Was die innere Handlungslogik der Oper angeht, bleiben am Ende also durchaus Fragezeichen stehen. Musikalisch gesehen war’s aber ein wunderbarer Abend.

■ Wieder in der Neuköllner Oper am 17.–19. 10., 24.– 26. 10., 30. + 31. 10., jeweils 20 Uhr