: Die kleine Schulrevolution
AUS HORSTMAR UND SCHÖPPINGEN NATALIE WIESMANN
Nach einer Bildungsrevolution sieht es in Horstmar und Schöppingen eigentlich gar nicht aus. In den beiden 7.000-Einwohner-Städtchen nordwestlich von Münster ist auch tagsüber kaum jemand auf der Straße. Nur ein paar schick angezogene Frauen mittleren Alters tragen Einkaufstaschen über sauber gefegte Bürgersteige zu ihren Zweitwagen. Einige Backsteingebäude im Zentrum, viele Felder in der Umgebung. Die weit überwiegend katholische Bevölkerung wählt mehrheitlich konservativ CDU. Aber der Schein trügt.
Denn den einzigen weiterführenden Schulen, zwei Hauptschulen, geht der Nachwuchs aus. Zum kommenden Schuljahr wurden in der von Schöppingen weniger als zwanzig Kinder angemeldet, in Horstmar nur noch vierzehn. 80 Prozent der Jugendlichen gehen hingegen schon heute auf Realschulen und Gymnasien in den benachbarten Städten, Tendenz steigend. Die mittelständische Wirtschaft jammert darüber, dass vor Ort keine qualifizierten Nachwuchskräfte mehr ausgebildet werden.
Aus dieser Not heraus wird hinter den blau-weiß und rot-weiß gemusterten Fensterläden zurzeit eine beinahe sensationelle schulpolitische Wende vorbereitet: Die beiden Kommunen planen die erste Gemeinschaftsschule in Nordrhein-Westfalen. Ab 2008 sollen im Gebäude der Horstmarer Hauptschule alle Kinder aus der Stadt und aus Schöppingen von der fünften bis zur siebten Klasse gemeinsam unterrichtet werden. Langfristig soll die Hauptschule in beiden Kommunen als Schulform abgeschafft werden.
Horstmars Bürgermeister Robert Wenking sieht sich nicht als Revolutionär. Als Affront gegen Schulministerin und Parteifreundin Barbara Sommer will der Christdemokrat sein Vorhaben schon gar nicht verstanden wissen: „Wir sind weit davon entfernt, das dreigliedrige System abschaffen zu wollen“, sagt der 41-jährige Stadtchef.
Dieses „Missverständnis“, wie er es nennt, hat er in den vergangenen Wochen ständig aus dem Weg räumen müssen. „Mit Einheitsschule hat das nichts zu tun“, versichert er. Jedes Kind würde nach seinen Fähigkeiten individuell gefördert. Und in der achten Klasse sollen die Jugendlichen wieder auf die bekannten Bahnen zurückgelenkt werden: Sie sollen dann zwischen Haupt-, Realschule und Gymnasium entscheiden. Aber sie sollen weiter unter einem Dach bleiben – und zwar unter dem der bisherigen Hauptschule in Schöppingen. „Das ist das, was sich die Eltern wünschen“, sagt Wenking.
Die Bürgermeister der beiden Städte sind in diesen Tagen viel gefragt. Nicht nur die Medien fallen neuerdings in die münsterländische Provinz ein. Auch andere Kommunen im Land wollen sich von dem neuen Schulmodell inspirieren lassen. Wenking hat heute Besuch aus Datteln. Matthias Dekker, Leiter der dortigen Schulverwaltung, hält die Gemeinschaftsschule für eine „hochinteressante Geschichte“. Auch die 37.000 Einwohner-Gemeinde spürt den Demographiewandel: Die Schülerzahl sinkt, die neun Grundschulen sind bereits auf fünf zusammengeschrumpft. An den Hauptschulen will keiner mehr sein Kind anmelden. Mit einer Zusammenlegung, wie es ein Ratsbeschluss vorsieht, komme man aber nicht weiter: „Die Hauptschule ist ein Auslaufmodell“, sagt er. „Es bringt nichts die Augen davor zu verschließen.“
In das Gebäude der Horstmarer Schule hat die Stadt in den zurückliegenden Jahren eine Viertel Million Euro in Umbauten investiert, darunter auch ein ultramoderner Chemieraum. Schulleiter Karl-Heinz Zumbrink, der ihn stolz vorführt, hätte nichts dagegen, dass seine Schule zu einer Gemeinschaftsschule umfunktioniert wird – und das nicht nur, weil der 61-Jährige nächstes Jahr in Frührente geht: „Ich wünsche mir bessere Bildungsabschlüsse für die Kinder.“
Dagegen kann auch die Landesregierung nichts haben. Doch aus Düsseldorf hat sich bisher niemand blicken lassen. Die schulpolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Ingrid Pieper-von Heiden, hat ihr Urteil von der Landeshauptstadt aus schon gefällt: Als „überflüssig“ bezeichnete sie gegenüber der taz die münsterländische Initiative. „Wir brauchen keine neuen Versuche, sondern müssen die Qualität des bestehenden Systems kontinuierlich verbessern“, so Pieper-von Heiden.
Auch im Schulministerin hält sich die Begeisterung arg in Grenzen – und das könnte das gesamte Projekt noch scheitern lassen. Denn Ministerin Sommer muss die geplante Gemeinschaftsschule genehmigen. Nachdem Sommer zunächst gar nicht reagiert hatte, äußert sie nun Bedenken: „Die schwachen Schüler werden in diesem System überfordert“, sagte sie am Sonntag dem WDR-Magazin „westpol“. Ihr Sprecher Andrej Priboschek führt noch weitere Argumente gegen die Gemeinschaftsschule ins Feld: „Sie passt nicht zu unserer Schulstruktur“. Das Ministerium unterstütze ja Kreativität und neue Versuche. „Aber nur mit der Aussicht, dass das Modell in die Breite gehen kann.“ Das wolle das Ministerium im Falle Schöppingen und Horstmar zwar noch prüfen. „Aber so, wie es bisher kommuniziert wurde, hat es keine Chance.“
„Das ist keine Antwort auf den Elternwillen“, ärgert sich Bürgermeister Wenking. „Wir wollen keine ideologische Diskussion.“ Von der Landesregierung erwartet der junge Pragmatiker, dass sie es auf einen Schulversuch ankommen lässt. Den Antrag dazu will er mit seinem Amtskollegen aus Schöppingen im Frühherbst stellen. Bis dahin werden sie noch die Eltern der Grundschüler dazu befragen. Das Ergebnis soll ihr Anliegen untermauern.
Die Resonanz der Eltern auf die geplante Gemeinschaftsschule ist bisher positiv: „Schade, dass meine Kinder nicht mehr davon profitieren können“, bedauert Maria Alfert. Sie lebt in Schöppingen, ihre vier Ältesten sind auf allen weiterführenden Schultypen vertreten. Ihre jüngste Tochter ist jetzt in der vierten Klasse und wäre damit für den Versuch ein Jahr zu früh dran. Sie wird ab dem nächsten Schuljahr täglich zwanzig Kilometer zur Realschule nach Ahaus fahren müssen. „In einer Gemeinschaftsschule hätte sie alle Möglichkeiten, das Abitur doch noch zu machen“, glaubt ihre Mutter. Die auf der Hauptschule gelandeten Kinder von Maria Alfert seien nicht so gefordert worden, wie sie es sich gewünscht hätte: „Ein Pferd springt nur so hoch, wie die Messlatte liegt.“
Die Rektorin der einzigen – katholischen – Brictius-Grundschule, Maria Wigger-Kerkhoff, hat bereits die Eltern informiert und unterstützt die Idee einer weiterführenden Schule für alle. Für sie ist das gemeinsame Lernen nichts Revolutionäres: „In der Grundschule werden doch auch die schwachen und die guten Schüler zusammen unterrichtet“, meint sie. Und 13-Jährige seien „menschlich reifer“ zu entscheiden, welche Schulform für sie die richtige ist. Außerdem könnten die Kinder länger vor Ort bleiben. Ein Viertklässler habe ihr neulich gesagt: „Kannst Du die Schule nicht so machen wie in Berlin? Dann können wir alle länger zusammen bleiben.“