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Archiv-Artikel

Mit beiden Füßen auf der Erde

„Sag alles ab, geh einfach weg“: Niemand verbindet Bügelhemden so gut mit sanfter Antihaltung wie Tocotronic. Auch wenn ein Sound wie aufgeweichte Haferflocken ihr Volksbühnen-Konzert trübte, die Texte des kommenden Albums begeisterten

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Besucht man derzeit die Website der Band Tocotronic, verliest Sänger Dirk von Lowtzow dort einen Text. Mit sonorer Märchenonkelstimme fängt er an, bedächtig und Wort für Wort genießend: „Kapitulation. Das schönste Wort in deutscher Sprache. (…) Viel mehr als das ordinäre Scheitern ist die Kapitulation vor allem dies: ein Zerfall, ein Fall, eine Befreiung, eine Pracht, eine Hingabe. Die endgültige Unterwerfung. Die größte aller Niederlagen und gleichzeitig unser größter Triumph. (…) Wir werden in Besitz der magischen Formel sein: Fuck. It. All.“

Das ist sehr schön gesagt. Das hat was vom situationistischen „ne travaillez jamais“, von Schlingensiefs Scheitern als Chance und vom spirituell verstandenen Geist des Punk. Blumfeld also lösen sich auf, und Tocotronic machen weiter. Am 6. Juli erscheint ihr neues, achtes Album. Und zumindest die Texte darauf – das verlesene Manifest ist eine Lyrics-Collage – sind eine Wucht. Sie inszenieren das Sichverwahren, Sichentziehen und Auf-Bartleby-Machen gänzlich antidestruktiv. Eben nicht im Sinne von Rumlaufen und überall Gegentreten, sondern im Sinne von „Fürchtet euch nicht! Und zieht euch nicht alles an!“

Verweigerung wird bei Tocotronic 2007 zur Grundlage kollektiver Handlungsfähigkeit. Eine freundliche, trostreiche Haltung, zu der ein frisch gebügeltes Hemd und die Worte „Liebe Freunde, wir heißen euch aufs Herzlichste willkommen!“ sehr gut passten. So begannen Tocotronic am Donnerstagabend ihr Konzert in der Volksbühne.

Sie spielten ganz hinten im Bühnenraum – für das erstaunlich zahlreich nachgewachsene jüngere Fanvolk gab es so genug Stehplatz, um sich in Exerzitien des Crowd Surfings zu ergehen. Ohne Scheu vor der Vergangenheit arbeitete sich Tocotronic quer durch ihr Werk und packten sechs neue Stücke in homöopathischen Dosen zwischen die bekannten. So toll und auf gute Weise zurückgekehrt aus dem partiell zu wald- und wiesenverliebten Raunen des Vorgängeralbums die frischen Texte wirken – so gering war die musikalische Überzeugungskraft. „Mein Ruin“, „Aus meiner Festung“, „Imitationen“ und „Luft“ klangen nach nettem Dur-Kadenz-Schema-Rock ohne großes Ohrwurmpotenzial. Mehr Andockpunkte lieferte der Titelsong „Kapitulation“ – aber auch er konnte sich nur schemenhaft aus dem Klangbrei herausschälen, der sich aus unerfindlichen Gründen an tagelang in der Müslimilch vergessenen Haferflocken orientierte. Lange nicht war der Sound in der Volksbühne so schlecht.

Durch alle Rezeptionsunschärfen hindurch lässt sich aber wohl konstatieren: Tocotronic sind wieder mit beiden Füßen auf der Erde. Ihre Stücke sollen keine Epen und keine Klanggedichte mehr sein, sie finden nichts mehr an harmonischer und instrumentierungstechnischer Opulenz. Simple Songstruktur, nett nach vorn gespielt, bescheidene Gesangslinien, gern mal in die Wiederholungsschleife gesetzt. Vielleicht angenehm zurückgenommen, vielleicht auch ein wenig langweilig. Richtig gut kam auf den ersten Hinhörer nur der veritable Punk-Hammer „Sag alles ab“. Gefühlte zwei dichte Minuten lang schrie von Lowtzow „Sag alles ab, geh einfach weg!“ – und klang fast wie Ideal mit „Komm, wir lassen uns erschießen!“ Dazu krümmte sich auf der Bühnenprojektion ein Mensch im Overall schreiend vor einem brennenden Immobilienobjekt.

Ansonsten obsiegten noch jüngere Hits wie „Führe mich sanft“ und „Pure Vernunft darf niemals siegen“ über den Soundbrei. Und in der Zugabe schaffte es tatsächlich das doch so wahnsinnig ausgelatschte „Freiburg“ wieder und noch einmal zu beseligen – was hätte man bloß in den letzten elf Jahren getan ohne Zeilen wie „Ich weiß nicht, wieso ich euch so hasse, Tanztheater dieser Stadt“. Ganz am Ende, als die Band schon verschwunden war und das Schlagzeug allein im Bühnennebel dastand, wurde Beethovens „Seid umschlungen, Millionen“ eingespielt. Da hatte man es dann wieder sicher: Tocotronic beherrschen weiterhin die Kunst der niemals jovial oder diktatorisch betriebenen Vergemeinschaftung. Dafür danke.