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Archiv-Artikel

Aufstand der Mittelschicht

Die aktuelle Krise in der Türkei lässt sich nicht mit den gängigen Schablonen erklären. Die vorgezogenen Parlamentswahlen bieten jetzt die Chance auf eine Normalisierung

Ömer Erzeren war 16 Jahre taz-Korrespondent; er lebt in Istanbul und Berlin. In „Der lange Abschied von Atatürk“ (ID-Verlag, 1997) schrieb er über Militär und Islam in der Türkei. Zuletzt erschien sein Buch „Eisbein in Alanya“ (Ed. Körber 2004)

Aus der Ferne betrachtet scheint in der Türkei Chaos zu herrschen. Binnen weniger Wochen scheiterte die Wahl des Staatspräsidenten durch das Parlament, es kam zu Massendemonstrationen gegen die Regierung, und das Militär drohte indirekt mit einem Putsch. Mit großer Mehrheit beschloss das Parlament schließlich, dass es am 22. Juli vorgezogene Wahlen geben wird.

Die Schablonen für die richtige Lesart der politischen Krise waren schnell fertig gestellt. Für die einen tobte ein Kampf zwischen Säkularen und Islamisten: Mit ihrer Drohgebärde hatte die Armee gegen die Regierungspartei AKP und für den Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, Partei ergriffen. Die anderen erwiderten, der Konflikt spiele sich zwischen der demokratisch legitimierten Regierung und militaristischen Nationalisten ab. Schließlich habe die Regierung Tayyip Erdogans in ihrer Amtszeit das Land modernisiert und unter Beweis gestellt, dass islamische Politik und Demokratie kompatibel seien.

Bei diesen Lesarten bleibt für die Türken nur die Entscheidung zwischen Teufel und Beelzebub: entweder auf Seiten putschwütiger Generäle. Oder auf Seiten einer Partei, deren Führungskader Religiosität offensiv zur Schau tragen. Zum Glück entsprechen diese Schablonen nicht den wirklichen Widersprüchen in der türkischen Gesellschaft.

Beginnen wir beim Militär. Die Putschgeneräle des Jahres 1980, die die demokratische Entwicklung der Türkei um Jahrzehnte zurückwarfen, hatten es vor allem auf die Niederwerfung der Linken und der kurdischen Opposition abgesehen. Als ideologischer Kitt gegen die Linke war ihnen die Religion nur recht: Sie führten Religionsunterricht als Schul-Pflichtfach ein und ließen in den kurdischen Gebieten hunderte von Moscheen bauen.

Dass Anatolien im Zuge des Ersten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren religiös homogenisiert wurde, gehört zur Vorgeschichte der Republik (durch den Völkermord an den Armeniern, den nationalen Unabhängigkeitskampf gegen die Griechen und den darauf folgenden Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei). Aber auch in den vergangenen Jahrzehnten gingen Nationalismus und Islam oft Hand in Hand. Zwar findet das Militär kein Wohlgefallen an Politikerfrauen, die Kopftuch tragen. Doch nicht so sehr ein „islamistischer Kern“ der AKP-Politik beunruhigt sie als vielmehr die Angst, ihr politischer Handlungsspielraum könnte eingeengt werden.

Fahren wir fort mit der AKP. Das, was als Modernisierungspolitik der AKP ausgegeben wird, ist ihr neoliberaler Wirtschaftskurs, die Öffnung der Märkte und gewaltige Privatisierungsschritte. Diese Politik bescherte hohe Wachstumsraten und ein Ende der inflationären Haushaltspolitik, aber die Richtung war nach dem Kollaps der nationalen Ökonomie im Jahr 2001 ohnehin vorgegeben.

Die Konfrontation war programmiert. Doch sowohl die AKP wie auch das Militär sind nun die Verlierer

Neben all den Reformen, die der schnellen Integration des türkischen Marktes dienten, führte die Annäherung an die EU auch zur Verabschiedung demokratischer Gesetzespakete im politischen Bereich. Doch der Wesensinhalt demokratischer Reformen lag der AKP-Regierung fern: Sie begriff sie als technisches Instrument, um ihre Position gegen den Militärapparat zu stärken. Demokratisierung wurde als „Volkswille“ missverstanden und schließlich reduziert auf die satte parlamentarische AKP-Mehrheit im Parlament. Die Schritte der Regierung in Richtung einer kulturpolitischen Islamisierung der Gesellschaft fanden somit im Einklang mit „Demokratie“ und „Parlamentarismus“ statt.

Unvergessen ist, wie die AKP im Rahmen einer Reform der Familiengesetze klammheimlich versuchte, einen Strafrechtsparagrafen einzuführen, der Ehebruch kriminalisierte. Im letzten Augenblick machte die Regierung aufgrund des öffentlichen Entsetzens einen Rückzieher. Doch Schlüsselpositionen in der Bürokratie wurden mit Parteigängern besetzt. Der Eindruck drängte sich auf, dass Parteigänger, deren Ehefrauen Kopftuch tragen, bevorzugt wurden. Selbst bei der Ernennung von Schuldirektoren wurde die richtige Gesinnung zum zentralen Kriterium gemacht.

Es ist nicht verwunderlich, dass in einer stark säkularisierten Gesellschaft eine solche Politik Ängste schürte, die schließlich in Massendemonstrationen gegen die AKP mündete. Medien berichteten allein in Istanbul von über einer Million Demonstranten. Die Präsenz der Frauen und der Mittelschichten war unübersehbar. „Laizismus“ war der zentrale Kampfbegriff. Die nationalistischen Töne, die den Kampf gegen die AKP mitbeflügelten, waren selbstverständliches Beiwerk, weil die AKP die Wirtschaftsliberalisierungen ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen betrieb. Doch wer die Mittelschichten mit Prophetensuren vor den Kopf stößt, noch gewerkschaftsfeindlicher als Unternehmerverbände auftritt und die Bauern dem freien Spiel des Marktes überlässt, hat einen schweren Stand.

Vor allem durch die Ausgrenzung der städtischen Mittelschichten aus der Politik war der Konflikt programmiert. Doch sowohl das Militär als auch die AKP gehören zu den Verlierern der Konfrontation. Die Putschdrohungen haben sich abgenutzt. Das Militär, das noch beim Putsch von 1980 die Enttäuschung der Menschen vom parlamentarischen System aufgreifen konnte, hat sich heute mit seiner mitternächtlich ins Internet gestellten Erklärung der Lächerlichkeit preisgegeben und ist zum Angriffsziel der Öffentlichkeit geworden. Aber auch die AKP ist nach den Massendemonstrationen angeschlagen.

Es geht weder um Säkularisten gegen Islamisten noch um Putschgeneräle versus Demokratie

Man darf nicht vergessen, dass die Hunderttausenden, die nach der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink mit der Parole „Wir alle sind Armenier“ auf die Straße gingen, auch die AKP-Regierung als Komplizen des politischen Systems angriffen. Mit polizeistaatlichen Mitteln wurden am 1. Mai Gewerkschafter, die des Massakers unter Demonstranten vor 20 Jahren am Taksim-Platz in Istanbul gedenken wollten, auseinander getrieben. Die politische Verantwortung dafür liegt einzig bei der Regierung, die Gouverneur und Polizeipräsident ernennt. Und das Einzige, was die AKP-Regierung als Kurdenpolitik aufzuweisen hat, sind Vollmachten für die Armee, um ihre Art der Terrorismusbekämpfung zu betreiben.

Auch wenn sie die großen Probleme des Landes nicht lösen helfen, bedeuten Wahlen in dieser Situation ein Stückchen Normalisierung. Ein Stückchen Normalisierung, weil trotz der undemokratischen 10-Prozent-Hürde, die die Militärs mit der Verfassung von 1982 festlegten, unabhängige, kurdische Abgeordnete ins Parlament einziehen werden. Ein Stückchen Normalisierung, weil die AKP auf die Mittelschichten zugehen muss. Schon heute ist klar, dass viele Frauen, die nicht aus islamistischen Kreisen kommen, sich auf den Abgeordnetenlisten der AKP wiederfinden werden. Und ein Stückchen Normalisierung, weil dann wieder mehr Parteien als jetzt im Parlament vertreten sein werden. ÖMER ERZEREN