Wildwest in Dülmen

Die Wildpferde im münsterländischen Merfelder Bruch leben fast unbehelligt vom Menschen. Nur einmal im Jahr ist großer Auftrieb, wenn die jungen Hengste eingefangen und verkauft werden

„Die Dülmener Wildpferde sind durch natürliche Selektion eine gesunde, genügsame und robuste Art geblieben“

VON LUTZ DEBUS

Der Boden bebt. 400 Wildpferde galoppieren über eine weite grüne Fläche. Am Horizont sind Birken- und Kiefernwälder zu sehen, sonst nur flaches, weites Land, bedeckt von saftigem Wiesengras. Nahe dem Städtchen Dülmen im südlichen Münsterland existiert seit über 150 Jahren im Merfelder Bruch ein Reservat für Wildpferde. Damals zäunten die Grafen von Croy einen Teil ihres Besitzes ein, um die letzten Ureinwohner der Region vor dem Aussterben zu retten. Denn intensive landwirtschaftliche Nutzung und Zersiedlung raubten schon zu jener Zeit den eigentümlich aussehenden Pferden den Lebensraum und somit die Existenzgrundlage. Inzwischen ist das Arreal 350 Hektar gross.

Am kommenden Samstag müssen sich die Tiere den Merfelder Bruch allerdings mit etwa 20.000 Zweibeinern teilen. Dann nämlich findet der traditionelle Wildpferdefang statt, der eine touristische Attraktion des Münsterlandes ist. Nicht mit Lasso oder noch komplizierterer Gerätschaft sondern nur mit bloßen Händen werden die männlichen Fohlen aus der Herde herausgefangen. Denn wenn sie geschlechtsreif werden, haben die wilden Jungs in Dülmen nichts mehr verloren. Die Herde ist ein reines Matriachat. Wären über das Jahr Hengste im Reservat, gäbe es ständig Konflikte. Also müssen die männlichen Fohlen ausgesondert werden. Nach dem Fang findet eine Auktion statt. „Für 300 Euro ist schon ein nettes Pferdchen zu ersteigern“, sagt Werner Greskämper. Der Angestellte des Herzogs von Croy sitzt in einer kleinen Holzhütte. An Wochenenden kassiert er von den Touristen, die zu den Pferden wollen, 2,50 Euro Eintritt. „Viele meckern über den hohen Preis“, ärgert sich der ältere Herr mit gegerbten Gesicht, der hinter der Kasse sitzt. Der Herzog hätte doch genug Geld, würden viele sagen. Allerdings, erklärt Greskämper, machten die Pferde auch eine Menge Unkosten: So müsse man im Winter zufüttern, damit die Pferde nicht den ganzen Wald auffressen. „Zehn große Ballen Heu täglich!“ Auch die Zäune des Reservats müssten ständig erneuert werden.

Tatsächlich, sagt auch Försterin Friederike Rövekamp, die die angemeldeten Besuchergruppen in den Merfelder Bruch führt, seien die Motive des Herzogs nicht materieller Natur. Natürlich könne der Besitzer aus dem Gelände kein Baugebiet mehr machen. Die urtümliche Landschaft steht seit langer Zeit unter Naturschutz. Aber auch sonst rechnet sich der Unterhalt der Wildpferdebahn nicht. „Es ist sein Hobby. Und er fühlt sich der Familientradition verpflichtet“, sagt Rövekamp. Für sie als Försterin ist es spannend, Erfahrungen mit den Pferden zu sammeln. Die Tiere leben, von Menschen weitgehend verschont, im Sommer wie im Winter im Freien. Bei sehr schlechtem Wetter, Schneestürmen, Hagelschauer, Dauerregen oder strengen Frösten suchen die Vierbeiner Schutz in den dichten Kiefernwäldern. Ställe gibt es nicht.

Tierärzte und Hufschmiede haben die Pferde auch noch nie gesehen. „Unsere Hilfen sind für die Tiere keine Hilfen“, erklärt Rövekamp. Man habe einmal versucht, erkrankten Tieren ein Wurmmittel zu verabreichen. „An dem Medikament ist das Pferd dann gestorben.“ Durch die natürliche Selektion seien die Tiere viel widerstandsfähiger als ihre gezüchteten Artgenossen. Die genetische Vielfalt, erklärt die Försterin, sei bei Pferden durch ständige Überzüchtung, stark eingeschränkt. Die Dülmener Wildpferde würden deshalb in Zukunft durch ihr Erbgut für die Zucht an Wert gewinnen. „Die Dülmener Wildpferde sind durch natürliche Selektion eine gesunde, genügsame und robuste Art geblieben.“ Die Natur, auch wenn sie in einem Reservat nachgestellt wird, scheint keine Gnade zu kennen. Vielleicht ein Mal in der Woche kommt ein Abdecker auf das Gelände, entsorgt bei Bedarf ein verendetes Pferd. Sowohl bei der Geburt wie beim Tod greift der Mensch nicht ein. Trotzdem scheinen die Wildpferde im Großen und Ganzen sehr robust: Manche Gäule sind über 35 Jahre alt, was für ein Pferd ein wahrlich biblisches Alter ist.

Werner Greskämper zeigt, wie er die Seniorinnen der Herde erkennt. Der Rücken hängt durch. Und weil sie keine Zähne mehr haben, sind die Alten abgemagert. Man sieht die Rippen an den Seiten. „Am Schweif ist das Tier ganz nass“, erklärt Greskämper. Die Tiere leiden im hohen Alter unter Durchfall.

Dann aber hellt sich das Gesicht des Pferdefreundes wieder auf. Zwei kleine Mädchen interessieren sich für die Bildbände, die neben seiner Kasse ausliegen. „Euer Papa kauft Euch am Samstag doch bestimmt so ein kleines Pferd.“ Der die Mädchen begleitende Mann erbleicht. „Das passt nicht in unsere Garage“, versucht er zu kontern. Doch Greskämper bleibt hartnäckig. „Die sind doch höchstens ein Meter zwanzig hoch. Das geht schon.“ Dabei zwinkert er den Angesprochenen an. Dann erzählt er, wie die Besitzerin eines Fohlenhengstes nach drei Jahren einen Ausritt zum Reservat machte. Das Pferd war nur mit Hilfe von vielen Zuckerstücken dazu zu bewegen, seine alte Heimat wieder zu verlassen. „Blut ist dicker als Wasser“, kommentiert dies der Pferdekenner.

Zum Ende seines Besuches fragt der angesprochene Vater, wie denn die Fortpflanzung der Dorstener Wildpferde von statten gehe – so ganz ohne Mann. „Ohne einen Hengst geht das natürlich nicht“, erklärt Greskämper. Für etwa zwei Wochen werde ein Konik-Pony aus Polen oder ein versteigertes Tier aus ehemals eigenem Bestand ausgeliehen. In jener Zeit werden dann etwa 200 Stuten trächtig.

Infos: www.wildpferde.de