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Archiv-Artikel

Tote Stadt am Meer

Heiligendamm wird zum G-8-Gipfel geschleift. Eine Grabrede aufs erste deutsche Seebad DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Kerstin Decker lebt als freie Publizistin in Berlin

Die Villa ist weg! Die beiden Bad Doberaner machen die Augen zu und schauen noch einmal. Die Villa ist immer noch weg. Sie stehen auf der Strandpromenade des ältesten deutschen Seebads, das die Welt bald besser als G-8-Gipfelort kennen wird und können es nicht glauben. Seit vierzig Jahren fahren sie nach Heiligendamm zum Baden, und immer war die Villenreihe hinter ihnen – auch Perlenkette genannt – vollzählig. Und war das nicht die Villa der russischen Großfürsten, die Putin vielleicht kaufen wollte? Wird der sich aber wundern, wenn er im Juni kommt.

Wo seine Villa war, wird dann eine Pressetribüne sein. Und zwar für die embedded journalists, die anderen müssen ohnehin hinter den Sicherheitszäunen bleiben. Ein Zaun ist schon fertig. Er soll das Land Mecklenburg-Vorpommern 12,5 Millionen Euro gekostet haben – den Stacheldraht wohl nicht mitgerechnet. Und eine abgerissene Villa für die Pressetribüne. Der Investor, heißt es, habe „den Denkmalschutz aufheben lassen“. Eine interessante Formulierung.

Die beiden Bad Doberaner schauen noch immer in das architektonische Loch. Jetzt kann man Anno August Jagdfelds Hotelneubau dahinter sehen. Aber das heißt doch, genau genommen: Die vom Hotel können jetzt auch hergucken. Das heißt doch: Bis eben hatten die Villenblick, jetzt haben sie Meerblick! Schon wieder das Gefühl, das die beiden Doberaner inzwischen so gut kennen: Ohnmacht. Erich Honecker, sagen sie, hätte sich das nicht getraut. Wer war schon Erich Honecker gegen einen richtigen Investor?

Nach dem Gipfel, hört man, sollen auch die Villen „Schwan“ und „Möwe“ verschwinden. Schon genehmigt. Und die Kolonnaden. Und der riesige Stein, auf dem steht „Heiligendamm. Deutschlands erstes Seebad“, stört auch. Mecklenburgs Großherzog Friedrich Franz I. ließ ihn einst mit 23 Pferden herfahren. Denn am 22. Juli 1793 hatte sich Herzog Friedrich Franz I. zum Strand am Heiligen Damm begeben und dortselbst beschlossen, wozu ihm sein Leibarzt geraten hatte – die Errichtung eines Seebades, „das mit sehr gutem Fortgang gebraucht wird gegen Entnervung, Atonie der Eingeweide, Rheumatismen, Gicht und Ausschläge“. Seltsamerweise haben Entnervung, Atonie der Eingeweide und ähnliche Beschwerden seit 1990 in Heiligendamm und Umgebung drastisch zugenommen.

Höchste Zeit für einen Rückblick. Für eine Grabrede auf das erste deutsche Seebad? Skeptiker nennen G 8 den „Gipfel der Ungerechtigkeit“. Wenn die Welt-Logik im Großen ist, was die Heiligendamm-Logik im Kleinen ist, könnten sie recht haben.

Im Unterschied zu vielen ostdeutschen Gemeinden fing Heiligendamm erst 1990 an, so richtig zu verfallen. Nachdem die Treuhand die DDR-Kurkliniken (Staatseigentum!) international ausgeschrieben hatte. Aus der weißen Stadt am Meer wurde die tote Stadt am Meer. Nur vom Wasser aus lag sie noch immer da, wie der russische Zar sie fand. Oder Lord Nelson, Blücher und Wilhelm von Humboldt.

Wenn Heiligendamm der Maßstab ist, dann gilt das G-8-Treffen zu Recht als „Gipfel der Ungerechtigkeit“

Sylt? Früher fuhr kein Mensch nach Sylt. Man kam nach Heiligendamm. Aber das gesellschaftliche Leben wandelte sich. Fledermäuse statt Hohenzollern oder DDR-Bergarbeitern wohnten in den Neunzigern hier. Eine ganze leere klassizistische Stadt am Meer. Und hinter ihr dunkelte defätistisch der Gespensterwald. Vor den ewig geschlossenen Fenstern im Grand Hotel bauten die Schwalben ihre Nester. Menschen, die einen Ort suchten, der sie so richtig traurig macht, kamen gern: Ich verfalle, die Welt verfällt mit! – Filmregisseure drehten hier zeitnahe Befindlichkeits-Ost-Filme, Andreas Kleinert zum Beispiel: abgewickelte Wissenschaftlerin (Barbara Sukowa) kommt in abgewickeltes Seebad … und immer so weiter.

Aber am Morgen des 28. Mai 2000 fanden Spaziergänger neben dem riesigen Stein, den Friedrich Franz I. hertransportieren ließ und den Anno August Jagdfeld nun wieder abtransportieren lassen will, ein kleines liederliches Loch im Rasen. Das war der erste Spatenstich einer neuen Ära, entstanden tags zuvor bei Regen und Sturm unter vielen blauen Schirmen, auf denen stand „Die Fundus-Gruppe. Wenn die Immobilie zählt“.

1996 war die „Fundus-Gruppe“ der einzige Bewerber für das Gesamtensemble und bekam es. Für knapp 16 Millionen Mark oder etwas mehr. So genau weiß das keiner. Wohlgemerkt: für das Gesamtensemble. Die meisten hätten die Stadt lieber in viele Hände gelegt statt in eine einzige. Es wäre auch demokratischer gewesen. Einzelgebote gab es genug, und der Denkmalschutz lässt sich im Zweifel besser vor allen schützen als vor einem einzigen. Die Oberfinanzdirektion Rostock verpflichtete sich damals, die Stadt „mieterfrei“ zu übergeben.

„Mieterfrei“, klingt das nicht fast so wünschenswert wie „schädlingsfrei“ oder „schuldenfrei“? Im schönsten Haus von Heiligendamm, der Villa „Weimar“, wohnten noch Studenten der Heiligendammer Kunsthochschule. Und am Bad Doberaner Amtsgericht wurden plötzlich Prozesse geführt wie „Bundesrepublik Deutschland gegen Susan Pietsch“. Susan Pietsch, Kunststudentin, verlor ganz klar gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die Studenten mussten raus aus der Villa. Die gehört jetzt Jagdfelds Frau, die ihr Dach ein bisschen anheben lassen will. Denkmalschutz? Ach was. Und keiner kann mehr in den Gespensterwald dahinter.

Ich verstehe ja, dass Heiligendamm Anno August Jagdfeld gefiel. Wo sonst findet man in ganz Deutschland einen zweiten Ort, der aussieht wie vor 200 Jahren? Wo nichts dazugekommen, nichts weggekommen ist? Und den man so prima einzäunen kann. Der Erhalt des Ensembles galt bisher als Hauptgrund, Jagdfeld den Zuschlag zu geben. Und der hebt jetzt an, verschiebt, reißt ab. Der Diktator von Heiligendamm? Selbst wenn er die „Villa Perle“ wirklich neu bauen würde – ganz neu ist es nur noch Disneyland am Wasser. Auf dem wunderbaren schmiedeeisernen, einsturzgefährdeten Balkon der Villa Hirsch hat mir einst ein Wachschutzmann, der auf die tote Stadt aufpasste, die Grenzen der Exklusivität erklärt: Da, sehen Sie die Rasenkante? Bis zur Kante gehört alles Fundus. Dahinter die Strandpromenade ist schon der allgemeine europäische Rad- und Wanderweg. Völlig unprivatisierbar. Und der Strand gehört sowieso entweder dem Deichverband oder dem Meer.

Erich Honecker, heißt es, hätte sich das nicht getraut. Aber wer war schon Honecker gegen einen echten Investor?

Der Wachschutzmann irrte. Man hätte es wissen können. Der spätere Steuerberater und Chef eines riesigen Abschreibungsimperiums soll einst Rudi Dutschke bewundert haben. Bloß fand er wohl schon damals, dass man sein Gespür fürs Große ganz anders einsetzen sollte. Was ist die Weltrevolution gegen eine richtige 5-Sterne-Risiko-Immobilie?

Am Kurhaus steht noch immer: „Heic te laetitia vita post balnea sanum.“ „Hier erwartet dich Freude, entsteigst du gesundet dem Bade.“ Eine Inschrift noch fast aus der Zeit, da nur Schiffbrüchige sich im Meer aufzuhalten pflegten. Und das englische Königshaus natürlich. Am besten, man nimmt die alten Lettern auch ab und setzt statt dessen: „Die Fundus-Gruppe. Wenn die Immobilie zählt!“