Zahlentricks beim Kita-Ausbau

Damit mehr Kleinkinder in Krippen gehen können, sollen in Schleswig-Holstein die Gruppen vergrößert werden. Kitabetreiber und GEW sprechen von einer Mogelpackung

Norbert Hocke (GEW): „Die ErzieherInnen fühlen sich schlicht veräppelt“

BERLIN taz ■ Auch die große Koalition in Schleswig-Holstein möchte familienpolitisch modern sein und die Kitas für Kleinkinder ausbauen. Denn bisher finden nur acht Prozent von ihnen in dem norddeutschen Land einen Platz. Um 2013 jedem dritten Kind den Besuch einer Einrichtung zu ermöglichen, müssten jährlich rund 3.000 neue Plätze entstehen, so hat es Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) vorgerechnet. Dass man dazu nicht einfach die Gruppen vergrößern kann, hat auch die Ministerin einst selbst betont. Und doch: Eine geplante neue Kita-Verordnung sieht genau das vor.

Dort ist unter anderem zu lesen, dass altersgemischte Gruppen, in denen unter 3-jährige Kleinkinder zusammen mit Kindergarten-Kindern betreut werden, künftig bis zu 19 Mitglieder haben sollen. Eine deutliche Verschlechterung zur jetzigen Situation: Maximal 15 Kinder sind erlaubt, davon bis zu fünf der betreuungsaufwendigen Kleinkinder, die unter drei Jahre alt sind. Jetzt sollen sogar bis zu zehn Kleinkinder in der Gruppe sein dürfen.

Die ErzieherInnen schlagen Alarm: „Es reicht“, so Martina Castello vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, der 200 Kitas im Norden verwaltet, „Diese Verordnung ist eine Mogelpackung, die zu gravierenden Verschlechterungen der Standards in Kindertageseinrichtungen führt.“

Standards, die man doch gerade verbessern wollte. Seit Jahren werden die Kitas mit Qualitätsinitiativen, Bildungsplänen und Evaluationen überhäuft – ohne dass den ErzieherInnen dafür mehr Zeit gegeben wird. „Man gibt den ErzieherInnen mehr Aufgaben und lässt sie dann damit allein“, fast Bernd Schauer von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Schleswig-Holstein zusammen.

Dass die Gruppengröße für das Bildungsangebot und die individuelle Betreuung von Kleinkindern bedeutend ist, ist auch der Ministerin klar – gewesen: 2004 versprach sie den ErzieherInnen in einer Rede, die heute noch auf ihrer Homepage zu finden ist, das bisherige Betreuer-Kind-Verhältnis beizubehalten: „Diese Relation darf auf keinen Fall verschlechtert werden“, so die Ministerin damals. Bernd Schauer von der GEW vermutet, dass die Ministerin nun mit der Vergrößerung der Gruppen billige Zahlenakrobatik betreibt: „Sie kann dann in zwei Jahren eine Vermehrung der Kitaplätze melden, ohne einen einzigen Euro zu investieren.“

Ähnliche Trends befürchtet die GEW in mehreren Bundesländern. So seien in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz bereits Überlegungen in dieser Richtung laut geworden, berichtet Norbert Hocke vom GEW-Bundesvorstand. In anderen Bundesländern wie Baden-Württemberg sei der Personalschlüssel mit 1,5 Fachkräften zu 28 Kindern ohnehin extrem ungünstig. Dabei gibt es auf EU-Ebene eigentlich schon Richtzahlen für die Gruppengrößen: eine Erzieherin für fünf Kinder soll bis 2010 EU-weit die Regel sein. Bei den Kleinkindern sollen drei bis vier Krabbler auf eine Betreuungsperson kommen – Maßstäbe, die etwa in Skandinavien die Regel sind. Dazu sind dort die ErzieherInnen besser ausgebildet.

Hocke verweist auf eine bundesweite Befragung der Fachkräfte in den Kitas, die die GEW bald vorstellen will. „Sie fühlen sich schlicht veräppelt“, fasst er erste Ergebnisse zusammen: „Sie sind massiv in Vorleistung gegangen, haben Lehrgänge in ihrer Freizeit gemacht, Tests eingeführt, Bildungspläne verfolgt und dokumentiert – ohne dass sie dafür die Ressourcen bekommen haben.“ Wenn nun noch die Gruppen vergrößert würden, dann könnten sie alle diese Verbesserungen mangels Zeit nicht umsetzen. Das könne kein Land wollen, meint Hocke, denn „dann sind all die Bildungspläne schlicht herausgeworfenes Geld“.

Das Bildungsministerium Schleswig-Holstein hat auf die massive Kritik an der neuen Kitaverordnung übrigens noch nicht reagiert: „Die Verordnung ist noch nicht verabschiedet,“ so Sprecherin Patricia Zimnik. Die Ergebnisse der Anhörung, bei der GEW und Trägerverbände ihre Kritik angemeldet hatten, „werden gerade eingearbeitet“, so die sibyllinische Auskunft aus Kiel. HEIDE OESTREICH