: Ära mit offenem Ende
Als letzte Premiere der Intendanz Klaus Pierwoß lässt der scheidende Generalintendant sein Opernensemble noch einmal vier strapaziösen Stunden triumphieren – mit Wagners „Tristan“
VON BENNO SCHIRRMEISTER
„Tristan und Isolde“ – in der Regie von Reinhild Hoffmann – war die letzte Premiere des Bremer Theaters in der laufenden Saison. Zugleich war die Oper die letzte Premiere der Intendanz von Klaus Pierwoß. Dessen Amtszeit hat 13 Jahre gedauert – eine Ära. Und auf dass auch jeder sieht, dass die Streitigkeiten zwischen politischer Führung und Theater-General von ersterer wirklich auch persönlich gemeint waren, ließ sich zum Schlussakkord dieser Ära kein Repräsentant der Kulturverwaltung im Theater blicken. Es hätte ja als Geste der Anerkennung verstanden werden können.
Wo es hingeht? Das weiß niemand. Am Ende von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ gibt es keinerlei befriedigende Auflösung von Konflikten. Ja doch, es gibt einen irgendwie hingewischten Schlussakkord: Die Partitur darf halt nicht ewig weiter gehen. Irgendwann, nach vier Stunden durchaus strapaziöser Musik, muss einfach ein Ende gefunden werden. Zuschauer, Sänger und sogar Instrumentalisten haben ja physische Grenzen. Auch wäre es nicht zumutbar, Sabine Hogrefe im durchnässten Kleid lange weiter spielen zu lassen: Grandios hat sie soeben, vor gleißend erleuchteten, seit Stunden dahinschmelzenden Eisblöcken, Isoldes Verklärungs-, Liebes-, Todes- und na, wohl auch Wahnsinns-Arie gesungen. „In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall“, heißt’s da, und dabei ist ein feiner Sprühregen von der Decke genau auf sie niedergegangen, „ertrinken, versinken, unbewusst, höchste Lust.“ Und dann ist die Oper aus. Grundsätzlich könnte sie ewig weiter gehen. Oder ganz neu beginnen.
Die Mentalprovinzler unter den Kulturverwaltern hätten mit dieser Oper wenig anfangen können. Er freue sich, so hatte Pierwoß noch vor der Premiere gesagt, dass es zum Abschluss „keinen leichten Kehraus zur Sommerzeit“ gebe. Und Reinhild Hoffmann ist auch nicht die Frau, sich triviale Zugänge zu der ziemlich irrsinnigen „Handlung in drei Aufzügen“ zu gestatten: Dass sich Isolde in den Mörder ihres Verlobten verliebt, nachdem er ihr dessen blutigen Kopf zugeschickt hat, ist monströs. Dass der sie dann, als sie ihn gesund gepflegt hat, seinem Onkel König Marke zwecks Vermählung zuführen will, empfindet nicht nur sie als Zumutung. Und dass Tristan, durch ein fälschlich eingenommenes Aphrodisiakum, in heißer Leidenschaft für sie entbrannt, seinen Ziehvater mit ihr betrügt, macht den Helden auch nicht sympathischer.
Erst in der Musik wird diese Handlung abstrakt genug, um erträglich und – sogar – wunderbar zu sein: Wagners Partitur ist der einzige Zugang zum Werk. Und daran, dass sie diesen genommen hat, lässt Hoffmann keinen Zweifel. Auf die Frage, was ihr am Werk das Wichtigste sei, antwortet sie: „Die Vorspiele.“ Von denen gibt es zu jedem Akt eines. Und wirklich tut sich nirgends mehr als in deren abenteuerlichen Harmonien und Modulationen, ihren Rückungen, Seufzern und Engführungen. Anders als musikalisch darstellen lässt sich das nicht: Durch einen transparenten Vorhang erlaubt Hoffmann während der Ouvertüren einen andeutenden Blick auf die spartanische Bühnen-Architektur Sabine Böings.
Wenige plakative Zeichen: die Eisblöcke. Und sich mal in die Unendlichkeit öffnende, mal zur Sackgasse verwinkelnde Wände, in die hinein wandelnd die Liebenden ihr zentrales Duett singen – Hoffmanns radikale Strenge dient der Musik. Und fordert sie heraus: Da sind die Philharmoniker, die von Klingele hervorragend die rabiaten technischen Anforderungen der Partitur im Stile eines eingestimmten – ja, wirklich! – Spitzenorchesters meistern. Da ist ein Matthias Schulz, der entgegen gängiger Bühnenpraxis, darauf gedrängt hat, das ungekürzte große Tristan-Solo singen zu dürfen: Diese 38 Minuten sind auch eine sportive Herausforderung. Aber größer ist doch die künstlerische Tat, hier die Spannung aufzubauen, sie variieren, halten zu können. Das ist schlicht atemberaubend. Vor allem aber gerät der Abend zum Triumph des Ensembles: Drei der vier tragenden Partien hat man mit Bremer Personal besetzt. Auch das ist ungewöhnlich. Und es spricht sehr für die Qualität des Hauses. Mit ebenso frenetischem wie berechtigtem Jubel werden die Sänger verabschiedet. Dem Modell des Ensemble-Theaters räumt der Pierwoß-Nachfolger Hans-Joachim Frey keine Zukunft mehr ein. Dass diese Schlussaufführung noch einmal zur fulminanten Demonstration der Stärken genau dieses Modells geraten ist, ist für Opernfreunde ein großes Glück. Aber ein Zufall ist es nicht.