piwik no script img

Archiv-Artikel

„Was um alle Welt geht hier vor?“

KONFLIKTHERDE Es fehlt der Raum für einen Dialog zwischen Feinden. Der Psychoanalytiker und Friedensforscher Vamik Volkan im Gespräch

Der Feindgruppenanalytiker

■ Vamik Volkan ist ein US-Psychoanalytiker zyprisch-türkischer Abstammung. Unter Präsident Clinton war er Mitglied des International Negotiation Network, dessen Ziel es ist, internationale Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen. Neben seinen akademischen Tätigkeiten, etwa an der Hebrew University in Jerusalem, arbeitete er drei Jahrzehnte lang mit Feindgruppen in Ländern wie Israel, Ägypten, Russland, Kroatien, Albanien und Südossetien.

■ Zum Thema Pazifismus siehe „Streit der Woche“, Seite 17.

INTERVIEW KLAUS ENGLERT

taz: Herr Volkan, als Psychoanalytiker haben Sie sich seit Langem mit Gewalt und Aggression in Krisengebieten auseinandergesetzt. Welche Rolle sehen Sie für Psychoanalytiker in internationalen Konflikten?

Vamik Volkan: Es ist mein Ziel, Freuds Gedanken auf die sogenannten Großgruppen – wie etwa religiöse, ethnische und nationalistische Gruppen – auszudehnen. Ich stelle mir die Frage: Wie ist das Verhältnis von Großgruppe und Aggression zu bestimmen? Als Sigmund Freud seine Texte über Krieg und Aggression verfasste, ließ er sich von der inneren Welt der Individuen leiten. Dagegen streben wir heute an, eine Psychologie der Großgruppen zu begründen. Damit möchten wir gewährleisten, dass Psychoanalytiker, die Feldforschung in den weltweiten Konfliktherden betrieben haben, ihre Erfahrung in diplomatischen Prozessen einbringen können.

Meinen Sie, dass Psychoanalytiker tatsächlich zu einer besseren Verständigung in der Welt beitragen können?

Die Psychoanalyse als solche kann nur wenig beitragen. Natürlich haben es Psychoanalytiker in ihrer Praxis ausschließlich mit Individuen zu tun. Außerhalb meiner eigenen Praxis beschäftige ich mich aber auch mit sogenannten Feindgruppen. Ich bringe führende Vertreter dieser Gruppen zusammen, um sie zu einem Dialog zu bewegen. Beispielsweise besuchte ich mehrmals palästinensische Flüchtlingscamps. Aufgrund dieser Erfahrung konnte ich die Faktoren studieren, die für die Gewaltbereitschaft bei ethnischen oder religiösen Gruppe ausschlaggebend sind.

Was sind das für Faktoren?

Stellen Sie sich ein riesiges Zelt vor. In ihm sind Tausende, ja Millionen Menschen versammelt. Das Zelt ist auf einen Pol, einen Führer ausgerichtet. Die Menschen sind alle Individuen, sie tragen ihre eigene Kleidung und haben ihre eigenen Identitäten. Aber jeder trägt auch ein Stück der Zeltleinwand als zweites, gemeinsames Kleidungsstück. Das ist die Großgruppen-Identität etwa von Arabern, Juden oder Christen. Entsteht nun eine Krise – dies passiert, wenn der Führer schwach ist oder wenn jemand das Zelt von außen mit Dreck bewirft –, dann beobachtet man immer die gleichen Verhaltensweisen: Die Menschen geben ihre eigene Identität auf und sorgen sich stattdessen darum, die Zeltleinwand zu schützen und zu reparieren. Geht man in die Flüchtlingslager oder Feindgruppen, um mit den Menschen ihre Probleme zu diskutieren, wird man immer das Gleiche beobachten: Sie würden alles tun, um ihre Großgruppen-Identität zu bewahren.

Vielerorts fühlen sich Muslime von westlichen Verhaltensweisen angegriffen. In der vergangenen Zeit nahmen die Konflikte zwischen arabischer und westlicher Kultur dramatisch zu. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Ich gehe davon aus, dass die Probleme weiter anwachsen werden, da weltweit die regressiven Tendenzen voranschreiten. Als Psychoanalytiker bevorzuge ich folgende Beschreibung: Es gibt einen Kampf zwischen dem Es – übersteigerte Emotionen, Sadismus, Masochismus, Mord – und dem Über-Ich – „Das darfst du nicht tun“, „Ich werde dich schlagen“. Bei alldem gibt es nirgendwo einen Platz für das Ich, das sich wundern könnte: Was um alle Welt geht hier vor? Es gibt keine Chance für Dialog.

Wie können denn Dialoge zwischen verfeindeten Parteien entstehen?

Solche Fragen lassen sich intellektuell wunderbar durchspielen, aber in Wirklichkeit sind die emotionalen Blockaden immens. Fragen Sie mich am besten nicht, wie ich diese Dialoge beginne. Eines kann ich Ihnen mit Sicherheit beantworten: Wenn man darauf verzichten würde, lediglich fünf Bomben zu bauen und das frei gewordene Geld – vielleicht eine Million Dollar oder weniger – einer interdisziplinären Gruppe gäbe und den Dialog zwischen den verfeindeten Parteien begänne, dann wäre außerordentlich viel erreicht. Es dreht sich alles darum, einen Kommunikationsraum zwischen den sich bekriegenden Parteien herzustellen.

Was kann dort passieren?

Auf diese Weise können die Menschen ihre psychischen Realitäten verstehen und die Fehler in einen Dialog einbringen – nicht in einen intellektuellen, aber in einen emotionalen Dialog. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Nach dem 11. September konnte ich feststellen, dass sich die Feinde immer dann, wenn Krisen dauerhaft und ausweglos werden, einander angleichen. Das geschieht überall. Damit meine ich nicht, dass sich die Vereinigten Staaten in die Taliban oder den IS verwandeln und grauenhafte Anschläge verüben sollten.

Sie haben sich jahrelang mit dem Phänomen der Selbstmordattentäter in der islamischen Welt auseinandergesetzt. Wie wird sich dieses Gefahrenpotenzial entwickeln?

Selbstmordattentäter werden aufgrund bestimmter Erfahrungen, zugefügter Erniedrigungen und Traumata, ausgewählt und zwei Jahre lang ausgebildet. Diese systematische Erziehung zielt darauf ab, sie zu Wortführern der Großgruppe zu machen. Schließlich schleicht sich die Religion ein, die sie an die Illusion klammern lässt, nach dem Selbstmordattentat nicht wirklich zu sterben, sondern im Himmel die geeignete Frau für die Hochzeitszeremonie zu finden. Heutzutage ist das islamische Zelt erschüttert. Sie können die islamischen Selbstmordattentäter nicht aufgrund ihrer individuellen Psychologie verstehen. Denn sie verhalten sich gemäß der Großgruppen-Psychologie. Normale selbstmordgefährdete Menschen besitzen ein schwaches Selbstwertgefühl. Dagegen haben Selbstmordattentäter ein hohes Selbstwertgefühl, weil sie zum Wortführer der Großgruppe aufsteigen. Es macht keinen Sinn, zu ein, zwei oder vielleicht hundert Selbstmordattentätern zu gehen, bevor sie uns töten. Die Strategie muss vielmehr lauten: Wie können wir verstehen, woraus die Zeltleinwand besteht? Welche Wunden sind dort vorhanden? Was können wir unternehmen, um die Zeltleinwand zu befestigen?

Warum ist es für den Psychoanalytiker so aussichtslos, den Einzelnen therapieren zu wollen?

Wir müssen erkennen, wie die Großgruppe aus der Regression herausgeführt werden kann. Ich habe auch das Leben von Osama Bin Laden studiert. Man kann daran sehen, wie die Psyche von Führern unter bestimmten Bedingungen durch historische Prozesse beeinflusst wird. Die Umstände seiner Kindheit machen es verständlich, dass aus Bin Laden ein rachsüchtiger Mensch geworden ist. Heute sind es Tausende und Abertausende radikale Muslime, die es ihm und den heutigen Führern gleichtun. Weshalb folgen diese Menschen diesem Wahnsinn? Welche Wunden haben sie? Wie können wir erreichen, sie nicht zu erniedrigen? Wir brauchen eine neue Vision, um die Welt zu verstehen. Aber auch, um die Menschen besser zu verstehen, die derart grauenvolle und wahnhafte Dinge tun. Wenn wir einfach das Böse verurteilen, dann werden wir niemals dahin gelangen, die Handlungen dieser Menschen zu studieren. Sehen wir aber hinter diesen Handlungen die Menschen, dann können wir versuchen zu erforschen, was sie so furchtbar macht.

Heutzutage nimmt der muslimische Terror in vielen arabischen Staaten zu. Wie kommt es dazu, dass sich Menschen in einen Konflikt stürzen, bei dem die Opfer auf beiden Seiten extrem hoch sind?

Sie müssen verstehen, was diese Menschen durch ihre Religion und Kultur antreibt. Wie sieht der Masochismus aus, der sie in diese Lage versetzt? Wenn sich Religion mit Politik vermischt, ist der Ausgang tödlich, und zwar überall. Daraus entsteht ein äußerst regressiver Prozess, weil sich die Menschen zugleich als omnipotent und als Opfer empfinden. Der Selbstmordattentäter fühlt sich als Opfer, doch zugleich als allmächtig, weil er Gott auf seiner Seite weiß. Dann ist er fähig, eine Psychologie zu entwickeln, die ihm erlaubt, die meisten sadistischen und masochistischen Handlungen zu begehen. Diese Psychologie liegt dem radikalen Islam zugrunde. Wir müssen diese Dinge sehr ernst nehmen. Sie sind nicht mit Bomben aus der Welt zu schaffen. Seit dem 11. September gab es weder bei den Amerikanern noch bei den anderen Parteien Anstrengungen, die darauf abzielten, der Psychologie weltweiter Regression zu begegnen.

Nicht nur im Islam gibt es ein Anwachsen fundamentalistischer Strömungen. Auch in den Vereinigten Staaten und in Brasilien bemerkt man eine Rückkehr der Religion, verbunden mit massiven fundamentalistischen Tendenzen. Ist das ein universales Phänomen?

Wie ich schon sagte: Wenn sich Politik mit Religion vermischt, dann ist der Ausgang tödlich. Dass George W. Bush von einem Kreuzzug sprach, belegt, wie universal dieses Phänomen ist. Im Grunde benötigen wir eine neue Renaissance, um dem zu entkommen. Dies verlangt aber ein neues Denken und die Entwicklung von ernsthaften und friedlichen Initiativen.