: Die Wiege stand in der Türkei
Wovon reden wir eigentlich, wenn wir von Europa reden? Eine Annäherung DAS SCHLAGLOCH von ILIJA TROJANOW
Ilija Trojanow, 1965 in Sofia geboren, lebt als Schriftsteller mal hier, mal da. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt den Roman „Der Weltensammler“.
„Beachte nun Folgendes: kein sterbliches Ding hat einen Anfang, und es findet auch kein Ende in Tod und Vernichtung; was einzig existiert, ist die Vermischung und das Trennen des Vermischten. Aber die Sterblichen nennen diese Prozesse Anfänge.“
Empedokles
Wo der Rand ist und wo das Zentrum, hängt allein davon ab, wo man steht. Und wohin man sich bewegt. Es gab Zeiten, da war der Mittelmeerraum nicht der Saum Europas, der doppelt und dreifach umgeschlagen und festgenäht werden muss, sondern die kreative und produktive Mitte, ein Geflecht von Beziehungen und Neuschöpfungen.
Wir neigen dazu, das kartografische Blau des Ozeans als Grenze zu interpretieren, obwohl es lange Zeit eher eine flüssige Brücke bildete. Die Grundlagen der europäischen Kultur wären ohne die durchlässige, wechselhafte und manchmal sogar symbiotische Qualität der Ränder nicht möglich gewesen.
Trotzdem begreifen wir fließende Formen, unstete Identitäten und unscharfe Definitionen als ein Problem. Der öffentliche Diskurs über Europa verlangt nach einer kategorischen Klärung von Merkmalen der Zugehörigkeit: Als sollte eine Rasterfahndung ermöglicht werden, die europäisch von nicht-europäisch unterscheidet. Wenn wir uns für die Zukunft wappnen wollen, sollten wir Grenzen als Zusammenflüsse begreifen, die uns in der Vergangenheit befruchtet haben, als Spielwiesen von Mischkulturen, die für die Entwicklung des Kontinents von entscheidender Bedeutung sind. Denn das Trennende ist stets nur eine momentane Differenz, eine Flüchtigkeit der Geschichte.
Was ist dieses Europa, das wir täglich im Mund führen, ohne ein klares Bild davon zu haben, wobei dies nichts Ungewöhnliches ist: wir sagen ja auch oft „Gott“? Europa ist die einzige Halbinsel der Welt, die zu einem Kontinent hochgestapelt worden ist. Benannt ist sie nach einer phönizischen Prinzessin, der Tochter des Königs Agenor, ein Sprössling von Poseidon, dem Meer also zugewandt, der Ägypten verließ, um sich im Lande Kanaan anzusiedeln. Nach heutiger Nomenklatur ist sie also eine Libanesin oder Israelin, was vielleicht erklärt, wieso Israel beim European Song Contest mitsingen und Maccabi Tel Aviv in der Champions League mitspielen darf.
Erstaunlich am Mythos von Europa ist, dass die Prinzessin nicht aufgrund einer eigenen Leistung berühmt geworden ist, sondern aufgrund dessen, was ihr angetan wurde. Das passt zwar nicht zu dem Europa imperialer Größe, könnte aber gelesen werden als ein prophetischer Hinweis auf die außenpolitische Schwäche der EU im 21. Jahrhundert.
Die Legende um Europa kennt viele Fassungen. Schauplätze und Handlungsstränge ändern sich, Figuren treten auf bei dem Chronisten Apollodorus, werden besungen von Pindar und schleichen sich ins Alte Testament; die moralische und politische Richtung des Stoffes variiert. Denn das war Europa von Anfang an: Vielfalt, und die Geschichte kann nur dann allein heilig sein, wenn sie im Sinne eines jeden erzählt werden kann.
Nicht nur stammt unsere Namensgeberin von außerhalb, die Ursprünge europäischer Zivilisation stimmen nicht mit den heutigen Grenzen überein. Die vielbesungene antike Wiege würde heute weder geographisch noch politisch zu Europa gehören. Ausgrabungen der letzten Zeit unterstreichen, dass die kulturellen Impulse im klassischen Griechenland überwiegend von Stadtstaaten ausgingen, die in jener Region lagen, die Europäer schon früh Kleinasien nannten – was in etwa so vermessen ist, als würde ein Baby seinen Nabel „Kleinmutter“ nennen.
Diese Städte waren nicht nur wohlhabender als die des griechischen Festlands, sie standen auch in einem engeren Kontakt mit den Kulturen und Traditionen des Vorderen Orients. Gerade die intensive, jahrhundertelange Vermischung mit diesen trug entscheidend zur Blüte der hellenischen Frühzivilisation bei. Das homerische Werk ist eine Kulturleistung Ioniens, der heutigen Westtürkei. Und Thales, laut Aristoteles der Vater der europäischen Philosophie, war ein Bürger Milets, seinerzeit eines der führenden geistigen Zentren Kleinasiens. Und die vorbildlichste aller Bildungsmetropolen, Alexandrien, ein Knotenpunkt, geistig in Asien, Afrika und Europa beheimatet, war ein intellektuelles Ferment sondergleichen.
Indische Sadhus debattierten mit griechischen Philosophen, jüdischen Exegeten und römischen Architekten. Das Resultat hat europäischer Stolz vereinnahmt: Euklid schrieb seine Abhandlung über die Geometrie, Eratosthenes, der Direktor der großen Bibliothek, errechnete den Umfang der Welt (und vertat sich nur um 88 Kilometer, die Entfernung zwischen München und Garmisch-Partenkirchen), Ptolemäus zeichnete seine Karten, und eine Mannschaft von 72 hellenistischen Juden stellte die Septuaginta zusammen, die erste griechische Übersetzung des Alten Testaments.
Wer andererseits argumentiert, der Islam habe in Europa nichts verloren, wer also die Keule des dichotomischen Antagonismus schwingt – Abendland gegen das Morgenland, Europa gegen Asien, Aufklärung gegen Aberglaube, Demokratie gegen Despotismus –, der hat mit der Schulmilch aufgesogen, dass Karl Martell im Jahre 732 auf dem Schlachtfeld bei Poitiers die islamischen Horden besiegt und damit „unsere“ Zivilisation gerettet hat. Jahrhunderte hinweg war der zivilisierteste und fortschrittlichste Teil des Kontinents das islamische Al-Andalus. Die ähnlich lange Präsenz des Osmanischen Reichs in Südosteuropa, kulturell allerdings weitaus weniger fruchtbar, findet in unserem politischen Stammbaum ebenso wenig Berücksichtigung.
Die Souveränität Europas wird vielmehr anhand zweier Exorzismen definiert: die Vertreibung der „Mohammedaner“ bei Poitiers 732 und vor Wien 1683. Die herrschende Meinung in Europa weigert sich, den Islam als Teil ihres Erbes und als Mitbewohner der Region anzuerkennen. Dabei herrschte dort einst selbst nach heutigem Maß eine erstaunliche Toleranz. So war Rabbi Samuel Ha-Nagid, ein Geistlicher, der das Hebräische als Literatursprache wiederbelebte, gleichzeitig Wesir am Hof zu Granada. Man stelle sich vor, der Imam der Moschee in Mannheim würde zum Bundesminister ernannt werden!
In Blütezeiten hat Kultur in Europa stets im Plural existiert und ist nie stehen geblieben. Das einzig Ewige ist die Veränderung, sagt ein altes Sprichwort. Wer also Europa abschotten will, glaubt an das Ende der Geschichte. Er glaubt, dass unser System das beste und letzte ist, dass unsere Kultur abgeschlossen und fertig ist. Er ist dem Tod geweiht.
Beachte nun Folgendes: Europa hat keinen Anfang und es findet auch kein Ende in Tod oder EU; was einzig existiert, ist die Vermischung und das Trennen von dem Vermischten. Aber die Sterblichen nennen diese Prozesse Erweiterung und Grenzziehung.