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Archiv-Artikel

Perfektion wird neu definiert

AUSWERTUNG Gänsehaut-Feeling beim deutschen Team. Alle sind begeistert – von ihrem ersten Auftritt und von der Stimmung im Land

Die Akteurinnen dieser WM, das wird deutlich, sind zugleich auch genießende Konsumentinnen

Ein perfekter Auftakt. Dieser Meinung waren alle aus dem deutschen Team, die man nach ihrem ersten WM-Spiel dazu befragte. Verblüffenderweise wurde der erste WM-Auftritt, der 2:1-Erfolg gegen Kanada, gerade auch deshalb als so gelungen bewertet, weil das Team offensichtliche Schwächen gezeigt hatte. Linda Bresonik aus dem Defensivverbund bekannte: „Wir haben einiges nicht so gut gemacht.“ Um kurz darauf zu resümieren: „Ich fand es ganz gut, dass die Leute gesehen haben, es wird kein Spaziergang, mal eben so Weltmeister zu werden.“

Auch Doris Fitschen, die Managerin des Nationalteams, konnte dem etwas wackeligen ersten Schritt ins Turnier nur Gutes abgewinnen: „Der Start war gut, weil die Öffentlichkeit gesehen hat, es wird eine spannende WM und wir brauchen dabei die Unterstützung der Fans.“ Wäre Fußball planbar, dann hätte man die Zitterpartie am Ende für einen Marketingtrick halten können – fast am Rande des Selbstbetrugs. Die gelernte Marketingfachfrau Fitschen erklärte: „Das war auch gut für das Team. Die Spielerinnen haben gesehen, dass sie sich hundertprozentig zusammenreißen müssen.“ Dieser Erkenntnisgewinn sei selbstverständlich nicht nur den eigenen Fehlern, sondern auch der kanadischen Spielstärke geschuldet.

Gut fand die Verteidigerin Bresonik letztlich aber auch, dass ihre Zimmerkollegin Nadine Angerer nach der WM 2007 ohne Gegentor mal wieder einen Treffer hinnehmen musste. „Jetzt ist der Mythos endlich gebrochen und das Thema vom Tisch.“ Insgesamt scheint am Sonntagabend ganz schön viel Ballast vom deutschen Team gefallen zu sein.

Umso befreiter brachten die Beteiligten nach dem so grandios unperfekten Auftakt ihre Freude über die immense Aufmerksamkeit und Begeisterung rund um das Spiel zum Ausdruck. Bresonik sprach von einer „Reizüberflutung“ und fasste dann die Atmosphäre im Berliner Olympiastadion knackig so zusammen: „Gigantisch, bombastisch, einfach zum Wohlfühlen.“

Großes Staunen riefen im DFB-Team vor allem die Fernseh-Einschaltquoten hervor. Im Schnitt sahen mehr als 14 Millionen Zuschauer das Eröffnungsspiel. Wie Ralf Scholt, der WM-Programmchef der ARD mitteilte, wäre die Partie damit bei der Männer WM-2010 in Südafrika auf Ranglistenplatz zehn gelandet. Was für ein Quantensprung das ist, illustrierte die arglose Bemerkung von Linda Bresonik besonders gut: „Ich habe gedacht, das waren doch schon 74.000 im Olympiastadion, wie können dann noch so viele vor dem Fernseher hocken.“ Fitschen machte darauf aufmerksam, dass die Quote nicht einmal widerspiegele, was im Land los ist, da es an vielen Orten auch noch Public Viewing gegeben habe.

Die Akteurinnen dieser WM, das wird deutlich, sind zugleich auch genießende Konsumentinnen. Sie haben immer mehr Unglaubliches zu berichten. Schon in der Vorwoche zum Eröffnungsspiel, erzählt Fitschen, hätten in Berlin von Tag zu Tag mehr Fans vor dem Team-Hotel gestanden, und die Fernsehteams hätten immer noch mehr Kameras aufgebaut. Am Sonntag selbst sei das Team in Begleitung eines Hubschraubers und unter dem Beifall zahlreicher Straßenpassanten ins Olympiastadion gefahren. „Gänsehaut“ ist das Wort der Woche im DFB-Tross. Doris Fitschen stellt fest: „Die Weltmeisterschaft ist endgültig in Berlin angekommen, leider reisen wir jetzt ab. Aber Begeisterung kann man auch ganz hervorragend beim Public Viewing zeigen.“

Spannend wird nun zu beobachten sein, ob die guten TV-Quoten verstetigt werden können. Von der Euphorie beflügelt, wagte die linke Verteidigerin Bresonik eine optimistische Prognose: „Wenn wir ins Viertel- und Halbfinale kommen, wird da noch mehr möglich sein.“ Dazu allerdings, das weiß man im deutschen Team, muss man das Wort Perfektion nach dem Auftakt noch einmal neu definieren.

JOHANNES KOPP