: WIR:HIER
Kapitel 1
Die elfte Klasse des Liane-Berkowitz-Gymnasiums in Berlin-Schöneberg starrte schläfrig auf Frau Kontor, die auf dem Smartboard herumklickte. Immer neue Fenster ploppten auf, den Text über Van-der-Waals-Kräfte und Wasserstoffbrückenbindungen hatte sie mit Verweispfeilen in Rot und Blau markiert. Dann drehte sie sich zu den vierzehn Schülern um und sagte:
„Merken Sie sich das für den Test am Donnerstag! Die Note ist entscheidend fürs Zeugnis. Abwählen können Sie Chemie erst im zweiten Halbjahr, bis dahin müssen Sie mich noch ertragen, ob Sie wollen oder nicht. Also, bitte etwas mehr Aufmerksamkeit. Das gilt auch für Sie, Felix. Lesen Sie nochmal Seite 113 bis 122 im Chemiebuch.“ Sie sah in die müden Gesichter der Jugendlichen. „Haben Sie das jetzt endlich verstanden?“ Ihr Finger zeigte auf die Tafel, die Klasse murmelte und muhte verhaltene Zustimmung. Einige Schüler kicherten, es war immer noch ungewohnt, dass sie seit dem neuen Schuljahr von den Lehrern gesiezt wurden.
„Okay, das war’s für heute. Diejenigen, die noch Bandprobe oder eine AG haben, können schon gehen, die anderen“, Frau Kontor sah auf die Wanduhr, „ach, die spielen halt mit ihren Handys, bis es klingelt. Fünf Minuten müssen wir noch.“ Sie setzte sich hinter ihr Pult, griff eine Zeitung aus ihrer Tasche und begann zu lesen.
Szusza, Cem und Matteo packten ihre Rucksäcke, Laura schulterte ihre Gitarre, schob den Stuhl an den Tisch, rief „Tschüss, Frau Kontor“, und war gleichzeitig mit den beiden Jungs draußen auf dem Flur. Als auch Szusza endlich fertig war, schlenderten sie gemeinsam auf den Hof.
„Sollen wir erst noch eine rauchen oder wollt ihr sofort zur Probe?“ Matteo. Matteo wollte immer „erst noch eine rauchen“ egal, worum es ging.
„Ich muss noch mal aufs Klo, ihr wartet, ja?“ Laura drückte Cem ihre Gitarre in die Hand und rannte zurück ins Schulgebäude, schloss sich in eine Kabine ein und kramte nach dem Din-A5-Umschlag, den sie am Morgen in ihren Rucksack geworfen hatte. Sie wollte ihn endlich öffnen, unbedingt vor der Probe und sie wollte dabei alleine sein. Seit Tagen hatte sie auf den Brief gewartet, seit Tagen stand sie extra eine halbe Stunde früher als gewöhnlich auf und ging joggen, um den Briefträger abzufangen. Zum Glück kommt der meist schon vor halb acht. Sie wollte unbedingt vermeiden, dass ihre Mutter den Brief in die Finger bekam – sie wäre Laura auf die Nerven gegangen, bis sie wüsste, was drinsteht.
Postgeheimnis? Privatsphäre? Pustekuchen! Galt nur, solange Eltern glaubten, alles Wichtige zu wissen. Und falls in dem Umschlag wirklich eine Zusage lag, würden sie es sofort falsch interpretieren.
„Schatz, das finde ich super, wie du dich engagierst. Wir sind sehr stolz auf dich.“ Den Tonfall ihrer Mutter fand Laura immer verlogener. In Wahrheit meinte sie nämlich: „Das ist großartig, wenn du dich an der Uni bewirbst. Soziale Aktivitäten und so, gerade an ausländischen Instituten macht sich das hervorragend im Lebenslauf. Jetzt werden die Weichen für deine Zukunft gestellt.“ Ihre Mutter träumte davon, sie in wenigen Jahren in einer bedeutenden beruflichen Position zu sehen – und manchmal kam es Laura so vor, als ob das alles bereits vor ihrer Geburt entschieden worden sei. Und sie nur deswegen überhaupt in die Welt gesetzt worden war.
Edda und Franziska aus der Nebenklasse polterten in den Waschraum. Wie immer checkten sie zuerst, ob eine der Kabinen besetzt war.
„Wer ist da?“
„Laura.“
„Beeil dich, wir haben was zu besprechen. Du störst.“ Franzi stieß mit dem Schuh gegen die Tür.
Laura seufzte, drückte die Spülung und schloss auf. „Na, gibt’s eine neue Wundermascara oder ist eine von euch „total enttäuscht“, weil ihr Schwarm eine andere knallt?“
„Ha-ha-ha, sehr witzig. Und jetzt verpiss dich.“
Es fiel ihr schwer, den anderen noch nichts von dem Brief zu erzählen und nach der Probe verabschiedete sie sich schnell. „Sorry, ich muss sofort weg. Wir spielen heute Familienabend. Kotz!“ Zur Verstärkung steckte sie sich einen Finger in den Hals und würgte.
Als sie eine Viertelstunde später die Wohnungstür aufschloss, hörte sie aus der Küche leises Gemurmel. Was hieß: Papa war schon da, kochte, trank dabei seinen üblichen Feierabendwein und ließ ein Hörbuch laufen. Laura steckte kurz den Kopf in die Tür. „Hallo, ich bin wieder da.“
„Es gibt Pasta, Schätzchen. In einer guten halben Stunde. Alles gut bei dir?“ Sie nickte und verschwand in ihrem Zimmer. Jetzt war mindestens eine Viertelstunde Ruhe, bevor Mama aus dem Büro kommen würde. Sie nahm den Brief aus dem Rucksack und las nochmal den Absender: Der Senat von Berlin – Kulturelle Angelegenheiten. Jetzt zögerte sie das Lesen absichtlich hinaus, zwang sich, die Nervosität noch einen Moment auszuhalten und griff stattdessen nach der Gitarre. Sie beatboxte leise den Rhythmus vom neuen Stück, von ihrem Stück, und schlug die passenden Akkorde an. Was für ein geiler Song! Die Band wurde immer besser, vor allem wegen Matteo. Das musste sie zugeben: An der Gitarre war er so gut wie sie. Mindestens, und die Möglichkeit, zusammenzuspielen, machte den Sound von „Goldstück“ viel fetter und interessanter.
„Kommst du, Laura, das Essen ist fertig.“
Sarah Schmidt, publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman: „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de