: Pathetische Sprache schwalle
WORTSTROM Albert Ostermaier erzählt vom Sog der Mächte Religion und Kunst
VON RENÉ HAMANN
Zum ersten Mal flog das Buch nach Seite 40 an die Wand. Schuld waren Formulierungen wie diese (von Seite 17): „Ein kalter Januarmorgen in Niederbayern, Jagdszenen, dachte ich immer, wenn ich nach Niederbayern fuhr. Menschen, die auf Bänken vor den Höfen sitzen und auf die leere Straße starren, bis der nächste Halbstarke auf dem Motorrad liegend vorbeirast, wo die Ortsschilder einem ein Wiedersehen in der Neuen Welt versprechen und die Männer mit Herzen aus zerbrochenem Glas am Tisch sitzen und die Worte wie Splitter ausspucken, nachdem sie eine Unendlichkeit ihre Innereien aufgeschlitzt haben, bis sie es auf die Zungen und über die Lippen schaffen, gerade noch so, denn die Hälfte der Worte wird sofort wieder verschluckt, zurückgepfiffen.“
Das ganze Buch ist so! Es wimmelt von Bedeutungsschwangerschaften. Von verdrehten Metaphern. Von pompösen Gefühlen in endlos verschwurbelten Sätzen. Kurz: von Pathos.
Der Kritiker Ijoma Mangold hat in der Zeit einen interessanten Versuch gestartet, dieses Buch, den zweiten Roman des Münchener Schriftstellers Albert Ostermaier, nicht nur zu retten, sondern gleich zu etwas ganz Besonderem zu küren. Der Trick ist: Es geht in „Schwarze Sonne scheine“ einerseits um Poesie, um Dichtkunst, um die Weltsicht eines ambitionierten Jungautors, der noch zwischen Familie/Karriere als Firmenerbe und der „brotlosen Kunst“ hadert, und andererseits um die katholische Kirche. Also um Missbrauch. Aber nicht um sexuellen, wie es sich anbieten würde, sondern um geistigen, ja, sprachlichen Missbrauch. Und die Sprache des Romans stellt diesen Missbrauch eben dar, bildet ihn ab: „Es ist die Wortgewalt der Bibel …, die Ostermaiers Prosastrom durchpulst. Und es ist die Bildfrömmigkeit der katholischen Kirche, die hier als Metaphernseligkeit wiederkehrt“, so Mangold.
Das ist clever argumentiert und leuchtete mir trotz immer noch vorhandenen Widerstands auch so sehr ein, dass ich bis Seite 53 weiterlas. Dann aber dachte ich: Ist das wirklich eine Entschuldigung? Muss man pathetisch schreiben, damit klar wird, dass die Quelle dieses Sprachbombasts, der dazu meist sehr ungenau und oft ins Lächerliche kippend daherkommt, im Katholizismus liegt? In diesem Buch gibt es Stellen, die normalerweise kein Lektorat überstehen würden. Es gibt Fehler, die einem aufstrebenden Autor normalerweise in Schreibseminaren, in Werkstätten, in Literaturinstituten sukzessive ausgetrieben werden. Und zwar zu Recht.
Der Erzähler – er heißt Sebastian, vermutlich aber nur, damit man ihn nicht mit dem Autor verwechselt (geschrieben ist das Buch in der Ich-Perspektive; eine biografische Nähe lässt sich wohl leicht nachweisen) – kann natürlich nicht anders, nicht nur weil er poetisch, schriftstellerisch ambitioniert ist, und nicht nur weil er ein „Reichensöhnchen“ ist, das unter der Abwesenheit des Vaters und einer zu großen Abhängigkeit von der Mutter leidet, und nicht nur, weil er einen „priesterlichen Mentor“ hat, der Sylvester heißt, ihn auf eine fatale Reise schickt und schicken will und auch sonst gut darin ist, ihn zu manipulieren. Nein, der Erzähler kann gar nicht anders, weil er eine pathetische, existenzialistische Selbst- und Weltwahrnehmung hat.
Mit einem Wort: Er muss kitschig erzählen, weil er kitschig empfindet und kitschig denkt. Das Schlimme ist, dass ihm das erst nach und nach bewusst wird. Und an diesem Punkt setzt dann Mangolds Lob ein. Und meine Geduld wieder aus.
Während mich jetzt aber der Literaturredakteur überredete, weiterzulesen und mich dem Buch kritisch anzunähern, begann ich mit der weiteren Lektüre meinen Widerstand zu überdenken. Klar, Pathos ist peinlich, das lernt man irgendwann, spätestens im dritten Semester Germanistik. (Vielleicht nicht per se – wie bei so vielen Dingen kommt es auf die Dosis an.) Das Katholische aber hat ja tatsächlich eine Jahrhunderte überstrahlende Wirkmacht, die sich auch in schönen Bildern manifestieren kann, wie man an Abel-Ferrara- oder John-Woo-Filmen auch sehen kann. Gefangen nahm mich eine Passage, die sich mit dem größten aller katholischen Zaubersprüche befasst: „Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Fatal eben, wenn dieses eine Wort nicht fallen will. Und man ein halbes Leben lang auf dieses eine Wort wartet.
„Einmal katholisch, immer katholisch“, hat Mangold diese Faszination des Bösen zusammengefasst, und irgendwie stimmt das auch: Jeder Katholik kann mit Geschichten aufwarten, Geschichten, die nicht allein sexuelle Übergriffe behandeln, sondern die Folter der stumpfen, strengen Regularien des katholischen Betriebs beschreiben – vom Kommunionsunterricht über die Plage der Prozession, die Strafe der Beichte bis zur Drangsalierung der Messdiener (von Körper- sprich Lustfeindlichkeit und sonstiger Repression gar nicht erst zu reden) – und den merkwürdigen Abglanz derselben, der noch lange nachwirken kann.
Trotzdem, und dies sei auch in Richtung eines Neureaktionärs wie Matthias Matussek gesprochen: Dass die katholische Kirche seit jeher von übel ist, das müsste ein junger denkender Mensch eigentlich wissen. Dazu braucht man keine Zeitung aufschlagen, dazu muss man in kein Geschichtsbuch schauen, dazu muss man nicht einmal Louis Althusser lesen, obwohl das alles gewiss nicht schaden kann. Sebastian, der Protagonist dieses Romans, weiß das alles nicht. Er ahnt es höchstens. Er ist dem ganzen Schmock so sehr erlegen, dass er noch immer nicht davon lassen kann.
Und so lässt sich Sebastian nur allzu gern auf die Todessehnsucht ein, die natürlich auch etwas sehr Katholisches hat. Ursprung der Handlung ist nämlich die Nachricht, dass er einen tödlichen Virus in sich trägt, und Heilung verspricht nur eine ominöse Professorin, die im Bunde mit ebenjenem Sylvester steht. Dazu muss er nach Atlanta, ansonsten bleibt ihm höchstens ein halbes Jahr. Zum Glück waltet aber auch die Gegenkraft, Vernunft genannt und vertreten durch Sebastians Freundin Klara. Die erwirkt eine „zweite Meinung“, eine medizinisch korrekte Diagnose, die den ganzen Betrug, den ganzen Verrat erst ans Tageslicht bringt.
Zwischen diesen eigentlich dünnen Eckpunkten der Handlung liegt jede Menge „Wortstrom“. Ein innerer Monolog, der zwischen Verzweiflung, Panik und Realitätsprüfung liegt und vom Sog der beiden Mächte Kunst und Religion manchmal mitreißend erzählt, meistens aber unnötig wortreich über die im Grunde hanebüchene Handlung hinwegfabuliert.
So bleibt nach 288 überstandenen Seiten (na gut, ein wenig spannend ist es auch: Siegt tatsächlich die pure Vernunft? Oder schafft es die Gegenaufklärung durch irgendeine Lücke?) der Eindruck, dass es sich hierbei gewiss um ein biografisch sehr wichtiges Buch handelt, bestimmt besonders auch für den Autor; ein Buch, das nahezu eins zu eins abbildet, wie kontaminierend hochtrabendes Geschwalle sein kann; wie Literaturverständnis in bildungsbürgerlichen Zusammenhängen erwächst, sich darstellt, sich fortpflanzt, weiter wuchert (sic!). Wie aber auch eine Gegenkraft, eine Spur Aufklärung hell und eben nicht dunkel in diesen Murks hineinstrahlen kann.
Ob das Buch als Leitfaden für Nachwuchsdichter herhalten kann, wage ich persönlich nicht nur zu bezweifeln, ich möchte sogar auch dringend davon abraten. Zur Rettung der aktuellen deutschsprachigen Literatur, so wie es Mangold vorgeschlagen hat, taugt dieses Buch bitte, bitte auf gar keinen Fall.
■ Albert Ostermaier: „Schwarze Sonne scheine“. Suhrkamp, Berlin 2011. 288 Seiten, 22,90 Euro