Die Ewigkeit im Hühnerstall

Die renommierte Sinologin Irene Eber erinnert sich in ihrer geradezu bezaubernd leicht geschriebenen Biografie daran, wie sie nationalsozialistischen Terror und Schoah überlebte

VON AXEL DOSSMANN

An einem frühen Morgen im Juni 1945 standen sich die 15-jährige Irene und ihre Mutter nach Jahren der Trennung in einer Krakauer Küche zum ersten Mal wieder gegenüber. Doch sie umarmten sich nicht verzückt, wie es wohl im Kinofilm gezeigt worden wäre, schreibt die Jüdin Irene Eber fast sechzig Jahre später in ihren Lebenserinnerungen.

Stattdessen tat sich „ein Abgrund“ zwischen Mutter und Tochter auf. Nicht nur hatten beide „geglaubt und befürchtet, die andere sei tot“. Selbstsüchtig, kaltherzig und gierig nach Leben sei sie damals gewesen, urteilt die renommierte Sinologin aus Jerusalem heute. Sie schreibt von der Schuld, die sie in den Jahren nach dem Krieg empfand, weil sie 1942 ihren „eigenen Weg“ gegangen war, um ihr Leben vor den deutschen Mördern zu retten. Geh nicht, hatte ihr Vater sie gebeten, die Familie muss zusammenbleiben.

Das elf Jahre alte, blonde Mädchen aber floh: „Allein hatte ich eine Chance, spürte ich; jemand könnte mich verstecken.“ Sie fand zurück ins westgalizische Schtetl Mielec, in die Geburtsstadt ihres Vaters. Im Oktober 1938 war die mittelständische Familie aus Halle an der Saale nach Polen deportiert worden – zusammen mit etwa 18.000 Juden polnischer Herkunft aus Deutschland, ein heute wenig bekanntes Ereignis noch vor dem großen November-Pogrom 1938.

Im September 1939 überlebte die Familie in Mielec ein großes Pogrom, obwohl ihr polnischer Vermieter sie in dieser Mordnacht ins ungeschützte Freie gewiesen hatte, damit sein Haus von den Deutschen verschont bliebe. Im Winter 1942 aber wurde das Mädchen von vormaligen polnischen Nachbarn nicht abgewiesen. Im Hühnerstall der Familie Orlowsky hielt sich Irene Eber über zweiundzwanzig Monate in Mielec versteckt, bis im Sommer 1944 russische Soldaten die Stadt einnahmen. Im Glauben, die einzige jüdische Überlebende zu sein, schlägt sie sich als polnisch-katholische Waise mit den Orlowskys durch. „Wie konnte ich sicher sein, dass es später weniger gefährlich sein würde, Jüdin sein?“

Lässt sich die mörderische Dialektik von Identität und kollektiver Identifizierung stärker verdeutlichen? Das Buch von Irene Eber entwickelt eine Wucht, gerade weil ihre Sprache beinahe bezaubernd leicht und einfach ist. Indem sie genau und nüchtern beschreibt und ihre Erinnerungen skeptisch befragt, wird aus „dem Holocaust“ wieder ein konkretes, vorstellbares Leben und das Handeln einzelner Menschen inmitten des unbedingten Vernichtungswillens der Deutschen und ihrer Helfer.

Irene Eber begreift ihr schreibendes Erinnern ganz bewusst als Korrektiv für eine Historiografie, die Orten wie Mielec bislang nur wenige, kraftlose Zeilen gewidmet hat. Mit dem Blick auf die vermeintlichen Nebenschauplätze der Schoah erinnert sie als Zeugin indirekt auch daran, dass allzu viele Morde an Juden nicht in den großen Lagern und in Gaskammern stattfanden, sondern auf Marktplätzen, entlang der Chausseen, auf Feldern und an Waldrändern.

Wiederholt schildert sie Zeichen, die der Katastrophe vorausgingen. Staunend nimmt sie zur Kenntnis, „dass wir hören und nicht verstehen, sehen und nicht begreifen“, dass Menschen durchaus erkennbare Chancen nicht nutzen, um ihr Schicksal zu ändern. „The Choice“ lautet der treffendere Titel der amerikanischen Originalausgabe von 2004, denn die Freiheit des Menschen, in noch schier ausweglosen Situationen Entscheidungen zu treffen, ist Irene Ebers Thema. Nie wird sie dabei einem anderen vorwerfen, sich anders entschieden zu haben, da kein Weg Glück oder Erfolg garantiert. Auch ihre Mutter und die ältere Schwester, die sie verlassen hatte, entkamen den Mördern. Sie gehörten zu den 199 Frauen auf der Liste von Oskar Schindler.

Ihr Vater hingegen wurde bei seinem eigenen Rettungsversuch denunziert und erschossen. Nach dem Krieg, als junge Frau, wollte Irene Eber sich nicht als Opfer fühlen: „Es war eine Frage der Wahl, die man treffen konnte oder auch nicht.“ Mit 17 Jahren verließ sie die Lager für Displaced Persons in Deutschland und schiffte sich nach New York ein, um in den USA zu studieren, statt sich einer kommunistischen oder zionistischen Idee zu opfern. Dass sie in ihrem Leben das Gedächtnis an die Jahre der Angst, Einsamkeit und Verfolgung stets begleiten werden, das begreift die Überlebende nur allmählich. Heute weiß sie ihren Verlust von Geborgenheit und Vertrauen in die Welt ernüchternd klar zu formulieren: „Ich weiß alles über das Verschwinden von Menschen und Dingen. Meine Welt besteht aus Ungewissheiten.“

Eber schildert in ihrem genau komponierten Buch die vielen „Reisen“ ihres Lebens auf jeweils nur wenigen Seiten. In ihren Erinnerungen ist das gleichzeitige Vergessen unsentimental benannt. Ihre Erfahrungen kontrastiert sie mit spröden Zitaten aus der Bürokratie der Vernichtung. Und sie nimmt Fotos, die auch im Buch abgedruckt sind, zur Hand, um an vertraute, meist ermordete Menschen zu erinnern. Man liest stellenweise atemlos und muss dann immer wieder innehalten angesichts der Bilder der Vernichtung, die Irene Eber so eindrucksvoll evoziert.

Sie sucht dabei nicht vordergründig Effekt, Sinn oder Botschaft – das macht dieses Buch besonders stark. Sie will vor allem Erfahrungen mitteilen, weil nach dem Tod der Zeitzeugen viele Fragen zu spät kommen werden, aber auch weil ihr selbst für Antworten bislang die richtigen Worte fehlten. 1998 fragte eine amerikanische Freundin sie, was sie denn die ganze Zeit über in dem Hühnerstall in Mielec gemacht habe. Ihre umständlichen Erklärungen langweilten damals die Freundin. Wie Irene Eber heute antworten würde, schreibt sie in ihrem Buch: „Wenn man so allein ist, kann man nichts machen. Der Zustand ist zeitlos, er dauert ewig.“

Irene Eber: „Ich bin allein und bang. Ein jüdisches Mädchen in Polen 1939.1945“. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. C. H. Beck, München 2007, 287 Seiten, 19,90 Euro