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Archiv-Artikel

„Ein Programm ist wie eine Melodie“

Warum fühlt man sich fremd in der eigenen Gesellschaft? Wie kann man zum Ganzen gehören? Ein Gespräch mit Stefan Schmidtke, dem neuen Leiter des niedersächsischen Festivals Theaterformen, über Konservativismus, das russische Theater, brasilianische Favela-Aktivisten und französischen Zirkus

STEFAN SCHMIDTKE

Stefan Schmidtke wurde 1968 im sächsischen Döbeln geboren. Er arbeitete als Regieassistent u. a. am Thalia Theater Halle, Volksbühne Berlin, und für das Fernsehen. Von 1992 bis 1996 studierte er an der Russischen Theaterakademie in Moskau Regie. Danach wurde er für die Baracke am Deutschen Theater in Berlin engagiert. 1999 folgten eigene Regiearbeiten an russischen Theatern. Seit 2001 arbeitet er als freier Dramaturg am Staatstheater Stuttgart und leitete die Veranstaltungsreihe „forumfestwochen ff“ der Wiener Festwochen. Ende 2005 wurde die künstlerische Leitung des neu gestalteten Festivals Theaterformen an ihn herangetragen.

INTERVIEW BARBARA MÜRDTER

taz: Im Programmheft des Festivals Theaterformen sieht man Bilder vom Himmel, aufgenommen letztes Jahr, über 14 Städten der Welt: von Hannover über Marseille und New York bis São Paulo und Kapstadt. Warum der Blick in den Himmel?

Stefan Schmidtke: Es geht dabei um den Augenblick, der eingefangen ist: Genauso wie die Theateraufführung ein Augenblick ist, der vorübergeht, haben wir versucht, etwas aus diesen Städten zu bringen, was dieser Vergänglichkeit entspricht, aber trotzdem ganz konkret ist. Die Himmel-Bilder stehen in Beziehung zur Festival-Wolke. Die ist 10 Meter lang, gestaltet von der Berliner Künstlerin Katharina Grantner. Diese Wolke wird mit Heliumgas gefüllt werden und 30 Meter über dem Schauspielhaus schweben.

Aus all diesen Städten haben Sie Theaterprojekte nach Hannover eingeladen. Warum war es notwendig, so weit zu reisen?

Dass es letzten Endes alle Kontinente geworden sind, ist auch ein Zufall des Entdeckens. So ein Programm entsteht aus einer Beschäftigung mit Themen und aus den Reisen. Als ich unterwegs war, war meine Frage, was ist Herkunft, was sind Werte, was ist Zugehörigkeit. Dann traf ich auf die Künstler, die sich damit beschäftigt haben.

Wenn man ein Festivalprogramm zusammenstellt, fragt man immer zuerst nach dem Ort an, an dem man überhaupt ist. Das heißt, man muss ein bisschen in Erfahrung bringen, was in Hannover los ist. Was könnte die Leute hier interessieren? Ich bin in verschiedenen Jugendzentren unterwegs gewesen und habe auch die jungen Artisten von der Landesarbeitsgemeinschaft für Zirkuskünste und dem Zentrum für Zirkuskünste „CirCo“ kennen gelernt. Das war dann für mich ein Impuls, in Frankreich zu suchen, was es an „Neuem Zirkus“ gibt. So findet ein Programm zusammen. Auf verschiedenen Kontinenten sieht man Dinge, Künstler, die nichts voneinander wissen. Im Programm fließen die zusammen und malen ein ganzes Bild von dem, was im Moment los ist, über Kontinent- und Kontextgrenzen hinweg.

Welche inhaltlichen und formalen Ansprüche haben Sie an die Stücke gestellt?

Ich komme aus einer, sagen wir mal, konservativen Richtung. Mich interessiert das Schauspieltheater und das Erzählen von Geschichten. Meine Idee war es, Geschichten von verschiedenen Kontinenten zu bringen, die etwas vom Heute erzählen, in denen die Menschen von ihrer Beziehung zu ihrem Ort und ihrer Gesellschaft berichten. Das soll nebeneinandergestellt werden. Wir hier in Hannover sollen reflektieren können, was bei uns im Leben ähnlich ist oder anders.

„Culture is our weapon“ ist der Theaterworkshop übertitelt, der zum Festival gehört. Das klingt nach einem hoffnungsvollen Bild von Kultur als Bildungschance und Instrument der Emanzipation. Glauben Sie daran?

Ja, natürlich. Jede Beschäftigung mit sich selbst, mit der Gesellschaft – und sei es dann über Theater – ist für die, die es betreiben und die, die dem beiwohnen, ein Prozess des Lernens. Selbst kleine Dinge verändern die Welt ganz groß. Das ist nicht unbedingt Idealismus, sondern Realismus.

AfroReggae sind ein Beispiel dafür, eine Truppe, die wir aus Brasilien eingeladen haben. Die haben 1993 in einer winzig kleinen Künstlerwerksatt in einer Favela, einem Slumgebiete aus Wellblechhütten in Rio de Janeiro, begonnen. Der Sozialarbeiter José Júnior hat angefangen, junge Leute von der Straße zu holen und für sie eine Ausbildung zu organisieren: Musisch talentierte Menschen wurden Musiker, Tänzer und Komponisten. Leute, die andere Talente hatten, zu Managern. Sie erzählen über ihr eigenes Leben und ihre Geschichte, in Videos, in Poetry, in Tanz, kleinen Theaterszenen und Musik – und haben damit eine große Bewegung in Fluss gebracht, der inzwischen über 100.000 Menschen angehören. Und das ist etwas, was man zur Kenntnis nehmen und zeigen muss.

Schon zwei Wochen vor ihrer Show werden AfroReggae hier in Hannover sein und mit jungen Menschen aus acht verschiedenen Jugendzentren zusammenarbeiten, eine eigene Hannover-Band gründen, Musikinstrumente bauen und dann gemeinsam mit dem niedersächsischen Polizeimusikkorps im Schauspielhaus auftreten. Und vielleicht sind dann die jungen Menschen in Hannover, mit denen die arbeiten, auch anders unterwegs in der Stadt. Wir wollen, dass etwas vom Festival hierbleibt.

Sie haben viel als Übersetzer von russischen Stücken gearbeitet, im Programm gibt es zwei russische Beiträge. Haben Sie eine besondere Beziehung zum russischen Theater?

Ich komme aus Ostdeutschland. Dort war Russisch Pflichtfach in der Schule. Ich habe mich Anfang der 90er-Jahre entschlossen, an der Russischen Theaterakademie zu studieren. Daher mein ganz besonderer Bezug, der letztlich auch mit einer Erfahrung übereingeht, die man als Ostdeutscher hatte. Das Land, in dem ich geboren wurde, das gibt es einfach nicht mehr. Mitte der 90er-Jahre war ich noch nicht angekommen in dem neuen Land und wusste auch nicht, wie man über das alte sprechen sollte. Das ging und geht den Russen genauso. Andererseits interessiert es jetzt auch die Westeuropäer sehr stark, was im Osten passiert.

Haben Sie als in Ostdeutschland sozialisierter Mensch einen anderen Blick als Ihre westdeutschen Kollegen?

Als Betroffener fällt es mir besonders schwer, das zu beschreiben. Es gibt eine ganze Menge Fragen, wenn man einen Systemzusammenbruch erlebt, und keine Antworten. Eine lange Zeit herrschte Sprachlosigkeit. Deshalb ist im Theater in den 90er-Jahren zu diesem Thema erst mal so gut wie gar nichts passiert, bis man in dieser neuen Gesellschaft angekommen war, bis man den Geruch wahrgenommen hat, den Rhythmus gespürt hat, bis man auch innerlich bereit war, seine Erfahrungen widerzugeben und zu erzählen.

Für Sie spielt das Gesellschaftspolitische offenbar eine wichtige Rolle. Ist das also ein zentraler Aspekt, nach dem Sie die Stücke ausgewählt haben?

Die Aspekte verschieben sich, weil so ein Programm eine Melodie haben muss. Die Inszenierungen hängen alle irgendwie zusammen und erzählen etwas von der sehr komplexen Reflexion von Fremdsein, von Außerhalb-der Gesellschaft-Stehen, obwohl man eigentlich mittendrin im Leben steht, über moderne Einsamkeit, über die Fragen, die einen selber beschäftigen – wie gehört man zum Ganzen dazu, wie kann man sich da einbringen.

Das Festival Theaterformen fand früher alle zwei Jahre statt und war nach der bisher letzten Ausgabe 2004 schon totgesagt. Wie haben Sie es geschafft, das wieder in Fahrt zu bringen, als eines der drei größten Theater-Festivals in Deutschland und sogar jährlich?

Also, die Vorarbeiten haben andere gemacht. Der Braunschweiger Bürgermeister hat den Einsatz seiner Stadt auf 330.000 Euro verdreifacht. Dazu hat sich das Land Niedersachsen mit einer Garantiezusage von 400.000 Euro jährlich bis 2010 gesellt. Als die Stiftung Niedersachsen und die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz sowie weitere Förderer dazugekommen waren und die Finanzierung stand, ist man darangegangen, den künstlerischen Leiter zu bestellen. An mich ist das schon in dieser neuen Konstruktion herangetragen worden. Mir blieb nichts anderes übrig, als Ja zu sagen.