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Archiv-Artikel

Leiden gehört zur Demokratie

AUTONOMIE & KRANKHEIT Der französische Soziologe Alain Ehrenberg geht der Frage nach, ob der westliche Individualismus in der Krise steckt

In Frankreich wie in Amerika gibt es eine Krise des Individualismus, sogar ein kulturpessimistisch eingetrübtes Miss- trauen gegen die Demokratie, fürchtet Alain Ehrenberg

VON TIM CASPAR BOEHME

Wann kommt eigentlich „Das Unbehagen im Unbehagen“? Nach „Das Unbehagen der Geschlechter“, „Das Unbehagen im Museum“ oder „Das Unbehagen in der Islamwissenschaft“ – um nur eine Auswahl zu nennen – ist jetzt mit der großen Studie „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ des französischen Soziologen Alain Ehrenberg ein weiterer Band erschienen, der im Titel auf Sigmund Freuds kulturtheoretischen Psychoanalyse-Klassiker „Das Unbehagen in der Kultur“ anspielt.

In Ehrenbergs Fall liegt die Wahl nahe, schließlich zeichnet er in seinem aktuellen Buch die Entwicklung der französischen wie der amerikanischen Psychoanalyse im vergangenen Jahrhundert nach – einschließlich der sozialen Leiden, die sie diagnostiziert haben. Als Übersetzung genauer wäre „Die Gesellschaft des Unbehagens“ – im Original heißt der Band „La Société du malaise“ –, die Tendenz stimmt aber. Das Unbehagen, lautet die Diagnose, ist für Gesellschaften charakteristisch, in denen sich die Autonomie als höchster Wert etablieren konnte. Schon in seiner international erfolgreichen Untersuchung „Das erschöpfte Selbst“ hatte Ehrenberg die These vertreten, dass die zunehmende Eigenverantwortung heutigen Subjekten ein Zuviel an Freiheit abverlangt, dass sie in die Depression stürzt.

Mit seinem Nachfolger prüft er jetzt die theoretischen Voraussetzungen dieses Befunds. Dabei wählt Ehrenberg für seinen Vergleich zwischen Frankreich und Amerika eine diskurszentrierte Herangehensweise. Was, so seine Frage, kann die Soziologie aus dem klinischen Bild der Psychoanalyse gewinnen? Welchen Einfluss hat der soziale und moralische Kontext auf die Psychopathologie? Und wie lässt sich das an den Verschiebungen in den psychoanalytischen Hauptströmungen beider Länder nachvollziehen?

Ehrenberg stellt diese Fragen nicht aus ideengeschichtlichem Interesse, er spürt vielmehr einem Unbehagen anderer Art nach, das er in Frankreich wie Amerika beobachtet. In beiden Ländern gibt es eine Krise des Individualismus, sogar ein kulturpessimistisch eingetrübtes Misstrauen gegen die Demokratie, wie er fürchtet. Hier wie da hat man es mit individualistischen Gesellschaften zu tun, in denen die Freiheit des Individuums auf ziemlich konträre Art eingeschätzt wird – einer der Gründe, warum sich eine Gegenüberstellung anbietet.

In den USA hat die Autonomie, die self-reliance, als einer der Garanten des Individualismus das Selbstbild der Amerikaner von Anfang an bestimmt. Die französische Gesellschaft vertraut seit jeher auf Institutionen, vornehmlich die des Staates, der das Individuum schützt und ihm so seine Freiheitsrechte garantiert. Was den Amerikanern die Autonomie des Selbst, sind den Franzosen die Institutionen.

Die Krise des Individualismus zeigt sich für Ehrenberg in der Art und Weise, wie amerikanische und französische Psychoanalytiker einzelne Leiden als gesellschaftliche Pathologien diskutieren. Ging es in der Anfangsphase der amerikanischen Psychoanalyse überwiegend um Zwangsneurosen, die zu Freuds therapeutischem Kernbestand gehörten, kommen mehr und mehr die Charakterneurosen wie Narzissmus und Borderline-Störungen zum Tragen. In den USA reagiert die Psychoanalyse mit einer Wendung hin zur Ich-Psychologie, die ihren Auftrag als Intervention an gesellschaftlichen Leiden begreift: Ziel der Analyse wird es, das in seinem Verhältnis zur Gesellschaft gestörte Individuum wieder funktionsfähig und konform zu machen, um einem Zerfall des Gemeinwesens entgegenzuwirken.

In Frankreich verlief die Karriere der Psychoanalyse nicht nur schleppender als in den USA, sie war zudem über Jahrzehnte hinweg von einer Figur geprägt: Jacques Lacan, der sich mit seiner „Rückkehr zu Freud“ für die entgegengesetzte Richtung entschied und für den die amerikanische Ich-Psychologie mehr oder minder gleichbedeutend mit dem Leibhaftigen war. Ihm galt die Autonomie als eine Illusion, die ihrerseits zu Pathologien führt. Statt, wie die Ich-Psychologie, das Selbst zu stärken, was für Lacan einer Verstärkung der narzisstischen Störungen gleichkam, wollte er die Aufklärung der Analysanden über die Illusion ihrer Autonomie.

Doch auch Lacans Skepsis konnte den Aufstieg der Autonomie in Frankreich nicht verhindern. Die stark hierarchische Klassengesellschaft entwickelte sich nach 1968 zu einem stärker hedonistischen, von bürgerlichen Aktivisten geprägten Gebilde. Narzissmus und Individualismus wurden kontrovers aufgegriffen und mitunter als befreiend, in der Mehrheit jedoch als Auflösungserscheinung sozialer Bindungen kritisiert.

Den Pessimismus diesseits und jenseits des Atlantiks will Ehrenberg nicht teilen. Er plädiert dafür, die sozialen Umwälzungen mitsamt ihren Pathologien als Teil der Demokratie zu akzeptieren. Dass die Gesellschaft darüber schwindet, fürchtet er nicht. Diese Einschätzung mag weniger auf Empirie als auf die Interpretation von Theorie gestützt sein, sie ist gleichwohl eine wertvolle Einsicht, zu der zu gelangen auch die umständliche Anlage seines Buchs rechtfertigt.

Alain Ehrenberg: „Das Unbehagen in der Gesellschaft“. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 531 Seiten, 29,90 Euro