: Sicherheit und Ewiges Feuer
Nicht nur in Polen, auch in Russland sorgen CSD-Paraden jedes Mal für Krawalle. Vier Fragen und ebenso viele Antworten
VON WLADIMIR KAMINER
Werden die Menschenrechte in Russland mit Füßen getreten?
Nein. Denn die Menschenrechte sind in Russland kein Allgemeingut und keine Selbstverständlichkeit. Sie liegen nicht einfach auf der Straße, man wird nicht gleich bei der Geburt mit diesen Rechten ausgestattet. Man muss sie sich erkämpfen, dazu gehören Mut und Engagement. Wenn sie erkämpft sind, darf man auf seinen Rechten nicht sitzenbleiben, man muss Gebrauch von ihnen machen und auf einer besseren, menschlicheren Politik bestehen. Ich kenne viele in Russland, die das tun. Im Westen nutzen die meisten ihre Menschenrechte eher, um sich zu unterhalten.
Sind die Russen homophob?
Nein, nur ängstlich. Laut offiziellen Umfragen, die das Statistische Institut im Auftrag des russischen Parlaments anstellte, halten 80 Prozent der Bürger der Russischen Föderation Homosexualität für eine gefährliche Krankheit, die therapiert werden sollte, 5 Prozent tolerieren die Homosexualität, und 15 Prozent wollen damit nichts zu tun haben. Die Leute haben Angst vor Schwulen, vor Schwarzen, vor Juden und vor allen, die möglicherweise anders sind als sie. Von den Schwarzen wird vermutet, dass sie die russischen Frauen irgendwie beeinflussen können, sie quasi auf afrikanisch anbaggern, sodass die Frauen sich in die Schwarzen verlieben und die Einheimischen sitzenlassen. Vor Juden und anderen Fremden haben sie Angst, dass die sie übers Ohr hauen, und gegen Homosexuelle hegen sie den Verdacht, dass diese Leute anständigen Bürgern an die Hosen gehen.
Solche Ängste haben wenig mit der Realität zu tun. In Wirklichkeit haben diese Bürger weder Frau noch Geld, nicht einmal einen knackigen Hintern, den es zu verteidigen gilt. Desto stärker entwickeln sich ihre Phobien. Die Ursachen dafür sind immer die gleichen: Armut, Bildungsmangel, Fehlen von Aufklärung. Früher, im Sozialismus, war die Welt nachvollziehbarer, die Planwirtschaft sorgte für Quoten in allen Lebensbereichen.
Nicht nur die Schuhproduktion und die Demografie, auch der Anteil der Homosexuellen in der Gesellschaft wurde im Sozialismus vom Staat geregelt. Die neue, vielfarbige Welt überforderte viele Russen. Zu viel Freiheit macht das Leben schwer. Wenn sie die Wahl hätten zwischen den Menschenrechten und der Sicherheit, die Mehrheit stimmte für die Sicherheit. Deshalb bringen sie Offiziere aus den Sicherheitsorganen an die Macht. Die Offiziere tun tatsächlich was, während die anderen „Politiker“ nur quasseln.
Werden in Russland Homosexuelle verfolgt?
Nein. In Moskau gibt es mehr homosexuelle Clubs und Saunas als Eckkneipen in Berlin, in jeder Zeitung annoncieren coole Jungs ihre Dienste, im russischen Parlament sitzen schwule Abgeordnete, die beliebtesten russischen Sänger, Schauspieler, Tänzer und Moderatoren sind schwul und machen keinen Hehl daraus.
Anders als in Deutschland kann man jedoch in Russland mit Homosexualität keine Wahlen gewinnen. Während hier die verklemmten Wahlbeteiligten damit ihre Toleranz zum Ausdruck bringen wollen, möchten die Russen keinen gleichgeschlechtlichen Sex in der Öffentlichkeit sehen. Deswegen wird auch die Schwulenparade Jahr für Jahr entweder verboten oder vom dagegen demonstrierenden Mob angegriffen, weil sich die Leute durch eine Parade bedroht fühlen. Eine Parade ist immer ein Aufruf, eine Kraftprobe, sie wird als Propagandashow der Homosexuellen abgelehnt.
Wird das Thema Homosexualität im russischen Fernsehen verschwiegen?
Nein. Ich konnte die russische TV-Berichterstattung lange nicht verfolgen, aber einige Zeit davor wurde in der Abendschau ausführlich über die gescheiterte Parade berichtet. Man zeigte, wie der Bürgermeister sagte, er könne die Sicherheit der Parade nicht garantieren. Es hat für internationales Aufsehen gesorgt, weil mehrere ausländische Politiker und Journalisten, die zur Parade eingeladen worden waren und es gewagt hatten, in Moskau auf die Straße zu gehen, von Gegendemonstranten beinahe in Stücke gerissen worden waren.
Die Organisatoren der Parade änderten damals kurzfristig ihre Taktik. Anstatt durch die Straßen zu ziehen, gingen sie zum Ewigen Feuer an die Kreml-Mauer, um dort am Mahnmal des unbekannten Soldaten Blumenkränze niederzulegen, wie es Hochzeitsgesellschaften und Kriegsveteranen tun. Doch auch dorthin wurden sie von der Polizei und einer gegnerischen Demo nicht gelassen. Die westlichen Beobachter brandmarkten meine Heimatstadt als totalitär, faschistoid und homophob.
Im russischen Fernsehen lief gleich nach der Abendschau eine Talkshow aus diesem aktuellen Anlass. Die russische Sabine Christiansen, eine großwüchsige Blondine mit massivem Busen und angeklebten Wimpern, die beim Zwinkern quietschen, moderierte eine kleine Runde: Bei ihr saßen der Moskauer Bürgermeister, ein orthodoxer Pope, ein Menschenrechtler, ein Sänger in Frauenkleidern und ein Seemann, der gerade mit einem Eisbrecher vom Polarkreis zurückgekehrt war und dessen Bezug zur verbotenen Schwulenparade völlig unklar blieb.
Es darf in der russischen Hauptstadt einfach keine Sodomiten geben, meinte der Pope. Der Menschenrechtler konterte, es sei das gute Recht eines jeden Bürgers, Sodomit zu sein. Der Sänger, als einziger praktizierender Sodomit in der Runde, lächelte nervös und sagte gar nichts. Der Seemann, der die ganze Zeit fieberhaft überlegte, was er in dieser Sendung zu suchen hatte, ergriff plötzlich das Wort und meinte, er habe eigentlich nichts gegen Schwule, sie sollten ihm nur nicht zu nahe treten.
Der Bürgermeister blickte die ganze Zeit starr auf den Busen der Moderatorin, die zwei Köpfe größer war als er. Anschließend hielt er eine kleine, einfühlsame Rede, die er ganz deutlich an ihren Busen adressierte. Jeder Mensch habe ein Recht, seine Bedürfnisse geltend zu machen, sagte er, aber nur dann, wenn seine Bedürfnisse mit den Bedürfnissen anderer Menschen nicht in Konflikt gerieten. Demokratie, erklärte der Bürgermeister dem Busen, sei eine Diktatur der Mehrheit, und die Mehrheit sei in Russland nach wie vor, Gott sei Dank, heterosexuell. Wenn er, der Bürgermeister, z. B. der unbekannte Soldat wäre, dann würde ihm das gar nicht gefallen, wenn irgendwelche Tunten ihre schwulen Blumen auf sein Mahnmal legten.
Danach entstand eine Pause. Auf den Gedanken, dass der Bürgermeister ein unbekannter Soldat sein könnte, war anscheinend niemand aus der Runde gekommen. Auch der Bürgermeister selbst schien von seinem Vergleich etwas überrascht zu sein. Was ist aber, konterte der Sänger im Frauenkleid hochphilosophisch, wenn wir annehmen, der unbekannte Soldat sei schwul gewesen? „Das werden wir wohl nie erfahren“, mischte sich die Moderatorin ein, „denn unsere Zeit ist um. Danke, dass Sie alle zu uns ins Studio gekommen sind. Und nun kommt Werbung.“
WLADIMIR KAMINER, 39, lebt als berühmter Autor („Russendisko“) in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: „Ich bin kein Berliner. Ein Reiseführer für faule Touristen“. Goldmann Verlag, München 2007, 256 Seiten, 8,95 Euro