: Onanie im Bettensarg
Die heutige Lange Nacht der Autoren in Hamburg und der Stückemarkt des Berliner Theatertreffens präsentieren vor allem Charaktere aus der Mitte der Gesellschaft, die ins Abseits geraten sind
VON SIMONE KAEMPF
Einer Frau kommt ihr Bett wie ein Sarg vor, seit sie ohne ihren Mann darin schläft. Eine andere Frau nimmt einen halb so alten Liebhaber mit nach Hause, schnell schlägt die anfängliche Verlegenheit über den Altersunterschied in Aggression um. Und ein Paar beichtet sich, woran es während der Zeugung seines Kindes gedacht hat: an die eigenen Kindheitsängste. „Sex“ heißt das Theaterstück von Justine del Corte. So umstandslos wie der Titel geht es in den neun Szenen nicht zur Sache. Das Alter ist die Kehrseite des Lebens wie des Liebens, davon ist die Rede. Man wendet sich zueinander, um Lebendigkeit zu spüren, aber wittert im Kreislauf von Liebe, Geburt und Leben bereits den Tod. Es ist nur eine Frage der Zeit, wo man sich gerade befindet.
Heute Abend wird das Stück gemeinsam mit Texten der drei weiteren Jungdramatiker Catherine Aigner, Dorothee Brix, Sathyan Ramesh bei der „Langen Nacht der Autoren“ am Hamburger Thalia Theater vorgestellt. Dafür, dass bis vor kurzem kaum jemand den Namen del Corte kannte, ist sie bereits weit gekommen, nicht nur, weil die Lange-Nacht-Jury sie aus immerhin 170 Einsendungen ausgewählt hat. Vergangene Woche wurde ihr erstes Stück bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführt – und gleich hart verrissen, wie es selten vorkommt. Ein neuerlicher Beweis für die Sinnhaftigkeit der Nachwuchsplattformen, die jüngeren Autoren mehr Zeit und Chancen gewähren. Theatertauglich jedenfalls sind ihre Figuren: aus dem Leben gegriffen und sofort wiederzuerkennen. Darin ähneln sich del Corte, Aigner, Brix, Ramesh und die anderen Autoren, die vor kurzem auf den Stückemärkten in Berlin und in Heidelberg vorgestellt wurden. Unabhängig vom Inhalt und den verschiedenen Zugriffen stammen ihre Figuren oft aus der Mitte der Gesellschaft, haben Freunde, Familie, sogar bezahlte Jobs. Dennoch wirken sie oft wie an den Rand gedrückte Einzelgänger, weniger geprägt durch die Gefahr des sozialen Abstiegs als durch Erschütterungen des Individuums.
Gleich am Anfang von Volker Schmidts „Die Mountainbiker“, das auf dem Heidelberger Stückemarkt den Haupt- und den Jurypreis gewonnen hat, sucht der Werbefachmann Albert jemanden, der aussieht, als ob „er alles hat, und dem trotzdem etwas fehlt“. Er redet über seine neue Kampagne, beschreibt damit aber seine eigene Umgebung. Vor allem die Frau seines besten Freundes läuft nicht mehr in der gewohnten Spur, vergrault als Inneneinrichterin ihre Kunden mit dogmatischen Geschmacksvorstellungen und versucht, den 15-jährigen Nachbarsjungen zu verführen. Besonders tragisch wirkt das nicht, aber die Verschiebungen reichen aus, um die Selbstgewissheiten in Bewegung zu setzen: „Mein Mann, meine Tochter sind zu austauschbaren Wesen geworden. Ich kann mich in jede Richtung bewegen, aber es hat keine Konsequenzen.“ Selbst gewählt ist dieses Abseits nicht. Oft scheinen die Figuren in der Vergangenheit einem Anpassungsdruck nachgegeben zu haben und zahlen jetzt dafür.
Kleine Bedrohungen reichen aus, um dem Alltag mit seinen beruflichen und familiären Anstrengungen jeden Sinn zu rauben. In Catherine Aigners „Hinter Augen“ ist das die anstehende Demonstration gegen Kürzungen in dem Betrieb, in dem der Freund der Mutter arbeitet. In der Familie, drei Generationen unter einem Dach, liegen die Nerven blank. Doch „Hinter Augen“ gibt weder eine Milieustudie noch ein Arbeitslosendrama ab. Opfer ihrer beredten Sprachlosigkeit wären die Figuren auch ohne die drohende Entlassung. Jetzt sinkt nur die Hemmschwelle, alles rauszulassen. „Ich habe gedacht, ich kenne dich. Warum kannst du nicht mit uns glücklich werden?“, knallt die Mutter dem Freund vor den Latz. Vielleicht, weil hier selbst diejenigen Menschen wenig voneinander ahnen, die einander vertraut sind. Wie könnten sie auch etwas voneinander wissen, da sie sich selbst kaum kennen?
Die gesellschaftlichen Vereinbarungen, auf denen das Zusammenleben beruht, sind zerbrechlich. Davon erzählen die Stücke, wenn man sie auf einen gemeinsamen Nenner bringen will. Es gibt Stoßrichtungen zu Themen wie Kindsmord in „Entwurzelt“ von Dorothee Brix. Oder Kapitalismuskritik in Philipp Löhles „Genannt Gospodin“. Zählt man die Einsendungen zur Langen Nacht, zum Heidelberger und dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens zusammen, kommt man auf über fünfhundert, Tendenz leicht steigend. Gefördert wird in die Breite, aber sich zu etablieren erfordert ein hartes, stetiges Arbeiten. Anja Hilling, Darja Stocker, Dirk Laucke, Reto Finger sind Autoren, die in der letzten Zeit den ersten Karrieresprung geschafft haben.
Laute Stücke helfen dabei kaum weiter. Doch unbarmherzig laut sind die Dialoge in Sathya Rameshs „Die ganzen Wahrheiten“. Trini, Portia, Annika: Die einzige Konsequenz ihrer trostlosen Leben scheint zu sein, sich in Bösartigkeit und Aggression zu retten. Sie treffen sich, wenn sie von der Arbeit kommen, aber das Fernsehabendprogramm noch nicht begonnen hat. Das Immergleiche in ihren Wohnzimmern entspricht der Hetze draußen. „Hoffentlich hat er sich einen von der Palme gewedelt, dann wird heute nur CSI geguckt und nicht gevögelt“, heißt es da. Der Autor gibt vor, dass die Figuren ihre Gedanken aussprechen. Alles soll raus, nichts unausgesprochen bleiben, aber das ist eine halbe Sache. So leicht sind Wahrheiten auf der Theaterbühne nicht zu haben.
„Die lange Nacht der Autoren“, heute , 19.30 Uhr, Thalia Theater Hamburg