: berliner szenen Fisch im Sushi-Restaurant
Leben lernen
Doch, der Fisch war wirklich da. Ich weiß es genau. Er schwamm knapp über dem Grund in dem schönen Aquarium des japanischen Restaurants in der Goltzstraße, von dem ich gelegentlich Sushi mit nach Hause nehme. Aus irgendeinem Grund bekomme ich immer Hunger, wenn ich in ein Aquarium schaue. Und so gucke ich den Nemos und anderen prächtigen Korallenfischen immer interessiert zu, während ihre Kollegen, der Lachs und der Thunfisch, hinter der Theke fachgerecht zu Sake und Tekka Maki verarbeitet werden. Diesen Fisch hatte ich aber noch nie gesehen: klein, dünn, mit vorwitziger langer Rückenflosse und einer komplexen Zeichnung an den Flanken. Er machte mich kurz sogar meinen Hunger vergessen.
Dann wurde ich abgelenkt, weil ich die Bestellung aufgeben musste. Als ich ins Aquarium zurückschaute, fand ich den Fisch nicht mehr wieder. Soweit es ging, habe ich hinter das kleine künstliche Riff geschaut, sogar aufgestanden und einmal ums Aquarium herumgegangen bin ich. Der Fisch war weg und blieb es. Wie ein Bekannter, der gestorben ist. Oder wie eine Frau, in deren Gefühlshaushalt sich Einschneidendes geändert hat. Die anderen Fische schwammen weiter, als ob nichts gewesen wäre.
Dann kam mein Sushi. Im Aufstehen dachte ich noch, dass ich diesen Fisch bestimmt bald vergessen würde. Aber das stimmt nicht. Ich muss oft an ihn denken. Zum Beispiel jedes Mal, wenn mir mein iPod dieses Lied von Rocko Schamoni ins Ohr shuffelt: „Leben. / Leben heißt sterben lernen / Leben heißt sich entfernen / Leben heißt aufzugeben / das Leben.“ Ein wenig hatte mich der Fisch an den Stichling erinnert, den ich als Kind einmal gequält habe und der seitdem auch durch meine Erinnerung schwimmt. DIRK KNIPPHALS