„Speer war ein PR-Genie“

„Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen“: So lautet der letzte Satz in Götz Alys Buch „Hitlers Volksstaat“. Der Historiker versuchte darin zu belegen, dass Hitler sich die Zustimmung zu seiner „Wohlfühldiktatur“ erkaufte, indem er die eroberten Länder und die Juden ausbeutete.

Unstrittig ist, dass das NS-Regime Juden und die besetzten Staaten brutal ausplünderte. Die Kontroverse dreht sich um die Frage, in welchem Maße das Regime damit seinen Krieg finanzierte und die deutsche Bevölkerung entlasten konnte. Aly macht diese Sichtweise zur Zentralperspektive auf das Regime. Die Deutschen folgten Hitler bis in die totale Niederlage und Zerstörung, weil das NS-Regime sich durch einen üppigen und wesentlich durch Raubzüge finanzierten Sozialstaat ihre Loyalität erkaufte.

So sei es nicht gewesen, meint der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, dessen umfangreiche Studie „Ökonomie der Zerstörung“ kürzlich auf Deutsch erschien. In einer Rezension von Alys Buch in der taz hatte Tooze kritisiert, dass Aly falsch rechnen musste, um seine These, nach der Hitler die Deutschen mit staatlichen Geschenken bei Laune hielt, zu belegen.

Alys Behauptung, dass die Kosten des deutschen Krieges zu drei Vierteln durch die Raubzüge der Nazis bezahlt worden seien, entspreche nicht den Fakten. In Wahrheit, so Tooze, wurden mehr als drei Viertel der Ressourcen für Hitlers Krieg von der deutschen Volkswirtschaft aufgebracht. Aus der Ausbeutung der Juden und der besetzten Ländern resultierte, so Tooze, höchstens ein Viertel. Nach Toozes Rechnung wurde die deutsche Bevölkerung finanziell weit mehr belastet als Aly einräumt.

Diese Frage ist keineswegs nur für Wirtschaftshistoriker von Belang. Denn zur Debatte steht, wie das NS-Regime sich die Gefolgschaft der deutschen Bevölkerung sicherte. War, wie Aly suggeriert, eine Art Bestechung der Bevölkerung das wesentliche Motiv? Oder war ideologische Übereinstimmungen zwischen dem Regime und den Deutschen in Kombination mit brutalen Sanktionen gegen alle Nazigegner ausschlaggebend für die Stabilität des NS-Regimes bis in den Untergang?

Dieser Perspektive folgt Adam Tooze: Die sozialstaatlichen Transfers erklären die Massenloyalität zum Nationalsozialismus nicht ausreichend. Wichtiger war, dass die NSDAP und ihre gesellschaftlichen Apparate an eine tief verwurzelte Stimmung der Militär-, Waffen- und Kampfesliebe in der deutschen Gesellschaft anknüpfen konnten.

Die Aufrüstung nach 1933, die stufenweise Militarisierung der Gesellschaft, wurde von der Bevölkerung willkommen geheißen, auch wenn sie die Möglichkeit des Massenkonsums entscheidend einschränkte. Tooze zeigt, dass das Naziregime ökonomisch spätestens ab 1944 auf dünnstem Eis gegangen ist. Die Ausbeutung der besetzten Länder, beispielsweise Frankreichs, stieß an ihre Grenze und im Reich selbst drohte die aufgeschobene Inflation, die nach 1945 dann tatsächlich eskalierte.

Literatur: Adam Tooze, „Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus“, Siedler Verlag, München 2007, 926 Seiten, 44 Euro; Götz Aly, „Hitlers Volksstaat“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006 (broschierte Ausgabe), 464 Seiten, 9,95 Euro. JAF

Wie finanzierte der NS-Staat den Krieg? Der Historiker Götz Aly behauptet, dass die Ausraubung der überfallenen Länder und der Juden zentral für Hitlers Kriegskasse war. Der britische Wirtschaftshistoriker J. Adam Tooze widerspricht

INTERVIEW JAN FEDDERSEN, STEFAN REINECKE UND CHRISTIAN SEMLER

J. Adam Tooze, 39, lehrt Europäische Wirtschaftsgeschichte in Cambridge und hat sich mit Veröffentlichungen zur deutschen Industriegeschichte einen Namen gemacht. 2002 erhielt er den Philip Leverhulme Prize für Geschichte.

taz.mag: Herr Tooze, haben die Deutschen unter den Nazis gut gelebt?

J. Adam Tooze: Bis 1944 ging es ihnen nicht schlecht. Es gelang dem Regime, den Lebensstandard auf dem Niveau der späten Zwanzigerjahre zu halten. Andererseits wurden in den Dreißigerjahren Wachstums- und Konsummöglichkeiten nicht realisiert. Der Durchbruch zur Massenkonsumgesellschaft fand nicht statt.

Warum?

Weil das Regime den Konsum systematisch gedrosselt hat. Zwischen 1932 und 38 wurden zwanzig Prozent des Bruttosozialprodukts in die Rüstungsproduktion geschoben. Das ist in der Geschichte kapitalistischer Staaten zu Friedenszeiten die größte, radikalste, schnellste Verschiebung.

Also Kanonen statt Butter …

Die Wehrmacht war in den Dreißigern extrem populär. Die Mehrheit der Deutschen wollte die Remilitarisierung der Gesellschaft. Und das Militär war für die Identifikation mit dem Regime wichtiger als die Olympischen Spiele und der Massenurlaub. Für die Mehrheit der Deutschen war die Remilitarisierung ein Wert an sich.

Für die Deutschen war das Militär wichtiger als Konsum? Steile These.

Nein, wir müssen weg von der Vorstellung, dass das eine gegen das andere aufgewogen werden muss. Beides zählt. Die Wehrmacht war nicht nur wegen der Arbeitsplätze populär, sie kurbelte die kollektive Fantasieproduktion an

Woher wissen Sie das? Es gab ja keine empirische Sozialforschung.

Stimmt. Aber man kann indirekte Schlüsse ziehen. Wir wissen, dass die öffentliche Erklärung der Wiederaufrüstung im Frühjahr 1935 zu den populärsten Akten des Regimes gehörte. Die Geheimberichte aus Deutschland an die Exilsozialdemokratie in Prag schildern eindeutig, dass der Jubel der Deutschen damals echt war. Solche Begeisterung kann man nicht erzwingen. Das Gleiche gilt für die Erfolge der Wehrmacht 1939, die zur Konsolidierung des Regimes beitragen und als Bestätigung der Politik der Dreißigerjahre gesehen werden.

Aber hinter dem Jubel gab es doch viel Zwang und Drohungen …

Klar gab es auch Zwang. Warum waren die Massen loyal zum NS-Regime? Wegen des Konsums – also der Butter – oder wegen der ideologischen Übereinstimmung? Mir scheint diese Gegenüberstellung etwas artifiziell. Denn dazwischen schiebt sich die Remilitarisierung. Das deutsche Volk will dies – das Regime gibt es ihm. Die Begeisterung für Waffen war eine Grundlage für die Symbiose von Volk und Führer. Die Deutschen hatten ein intimes Verhältnis zu Waffen. Auch das erklärt ihren Opferwillen bis zum Schluss. Wir müssen den Militärenthusiasmus viel stärker gewichten.

Wie wichtig war denn die Ausplünderung der Juden und der besetzten Gebiete für die Aufrechterhaltung der Konsummöglichkeiten im Reich von 1940 bis 1945?

Natürlich hat die Ausplünderung der besetzten Länder das deutsche Konsumniveau abgepuffert. Das Besatzungsregime in Frankreich zum Beispiel war eines der ergiebigsten aller Zeiten. Es gab eine gigantische Ressourcenmobilisierung in Frankreich – zwischen dreißig und vierzig Prozent des französischen Bruttosozialprodukts wurden vereinnahmt. Allerdings bricht die französische Wirtschaft deswegen ein – und NS-Deutschland ist mit dem Problem konfrontiert, dass es einen größeren Anteil von einem schwindenden Kuchen nimmt. Maximal kommen siebzehn Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts aus den gesamten okkupierten Ländern …

Das sieht Götz Aly in seinem Buch „Hitlers Volksstaat“ anders. Er geht davon aus, dass viel mehr aus den besetzten Ländern gepresst wurde.

Ja, aber mit dieser These steht Aly unter den Historikern völlig allein. Aly meint, dass ungefähr siebzig Prozent der Kriegsanstrengungen aus dem Ausland kamen, die restlichen dreißig Prozent aus Deutschland. Dabei waren die realen Verhältnisse umgekehrt. Aly ist ein toller Historiker – aber hier irrt er völlig.

Können Sie beschreiben, wie stark der Durchschnittsdeutsche im NS-Regime von der Ausplünderung der Juden profitiert hat?

Von den Juden viel weniger als von Frankreich. Die jüdische Bevölkerung hatte überall in Westeuropa nur einen kleinen Anteil an der Bevölkerung, meist unter einem Prozent. Selbst wenn viele reich waren, lässt sich durch deren Ausplünderung kein Krieg bezahlen und nicht der deutsche Gesamtkonsum mittelfristig abpuffern. Im Reich gab es in einzelnen Städten, in Wien, Berlin, Hamburg und Frankfurt, große jüdische Bevölkerungen, von deren Enteignung viele Deutsche profitierten. Aber das sind lokale Umverteilungen, die makroökonomisch kaum ins Gewicht fallen. Die großen jüdischen Bevölkerungen im Osten waren überwiegend arm – bei denen war nichts ausbeutbar außer ihrer Arbeitskraft.

Und das heißt?

Die Ausplünderung der deutschen und österreichischen Juden brachte dem Reich selbst in den Jahren 1938/39 nicht viel mehr als zwei Milliarden Mark an flüssigen Mitteln – die Besatzung Frankreichs 1943 hingegen dreizehn Milliarden Mark. Die Ausbeutung der besetzten Länder und jene der Juden sind also zwei verschiedene Themen, mit unterschiedlichen Größenordnungen. Das zu vermischen, ist ein weiterer Fehler bei Götz Aly.

Wie hoch ist denn das Ökonomische als Motiv für den Mord an den Juden zu veranschlagen?

Ich glaube, dass 1942 – und da stimme ich den Historikern Christian Gerlach und Götz Aly zu – eine gewaltige Lebensmittelumverteilung innerhalb Europas stattfindet. Konkret soll eine weitere Kürzung der Nahrungsrationen für die Deutschen verhindert werden. Es gab im Frühjahr 1942 schon Kürzungen, die fatale Wirkungen auf die Stimmung im Reich hatten. Außerdem sollte die minimale Ernährung der Millionen von Zwangsarbeitern gesichert werden. Und genau in diesem Moment wird die Vernichtung der Juden im Generalgouvernement, also Polen, ungeheuer beschleunigt.

Also werden die polnischen Juden 1942 vernichtet, um Nahrungsmittel für die Deutschen zu sparen und so das NS-Regime zu stabilisieren?

Eine unter Historikern viel diskutierte Frage lautet: Warum werden 1942 so viel mehr Juden getötet? Diese Beschleunigung ist eben mit der Lebensmittelproblematik erklärbar. Die Tötung von Millionen Juden 1942 im Generalgouvernement trägt dazu bei, die Rationssätze für die Deutschen stabil zu halten.

Hat die Beschleunigung der Vernichtung 1942 aber nicht vor allem politische Gründe?

Auch. Damals radikalisiert sich das Regime. 1942 konnte nur noch weitermachen, wer fanatischer Nazi war. Denn der Krieg war aus strategischer Perspektive verloren.

War das 1942 wirklich schon klar?

Ja, weil der Überfall auf die Sowjetunion gescheitert war. Das haben damals auch Fritz Todt [der 1942 bei einem Flugzeugabsturz verunglückte Rüstungsminister, dessen Nachfolger Albert Speer wurde; Anm. d. R.] und viele Industrielle so gesehen. Die Offensive gegen die Sowjetunion blieb stecken, und damit war die strategische Perspektive sehr verengt. Im Frühjahr 1942 wird Albert Speer Rüstungsminister, Gauleiter Fritz Sauckel, sein radikal nationalsozialistisches Pendant, bekommt die Verantwortung für die Mobilisierung der Fremdarbeiter, und der SS-Mann Herbert Backe übernimmt das Ernährungsministerium. Wer, wie Speer, noch 1942 diesen Posten übernimmt, kann kein unpolitischer Technokrat sein. So etwas konnte nur ein Überzeugungstäter tun.

Die Nazis konnten nie zurück, sondern immer nur weiter nach vorn. Deshalb ist für Hitler & Co 1942 eine Befestigung des eroberten Raums, also so etwas wie imperialistische Realpolitik, keine Möglichkeit …

Weil sie tatsächlich von Größenwahn getrieben wurden. Einzelne, wie Fritz Todt, wollten politische Wege suchen, aber die NS-Führung wollte eigentlich den Untergang inszenieren. Die NS-Politik nach 1942 hat mehr ästhetischen als strategischen Charakter. Das Bindemittel dabei ist die fanatische Anhängerschaft an die Person Hitler.

Die Absicht, die Juden zu ermorden, bestand also ohnehin – die Aussicht, den Krieg zu verlieren, und die Ernährungsfrage wirkten beschleunigend bei der Umsetzung?

Es gibt noch mehr Aspekte. Etwa den des Siedlungsgedankens, also im Osten jenen Lebensraum zu schaffen, der Deutschland nach dem Verständnis des Regimes fehlt.

Das ist aber nicht Judenmord, sondern Sklavenarbeit nach dem Generalplan Ost.

Die Juden sollten durch Arbeit vernichtet werden, getrennt nach Männern und Frauen, damit sie sich nicht mehr fortpflanzen konnten. Auschwitz und Majdanek stehen anfangs in diesem Kontext. Sie sollten die großen Arbeitslager des Generalplans Ost sein. Auschwitz wird 1942 zum Vernichtungslager. Mitbedenken muss man dabei, wie Christian Gerlach herausgearbeitet hat, den Hungerplan – also den Versuch, dreißig Millionen Einwohner der westlichen Sowjetunion innerhalb eines Jahres aus der Ernährungsbilanz zu entfernen, das heißt, verhungern zu lassen.

Das Planmäßige dieses Plans wird von deutschen Historikern stark bestritten …

Auf Reichsebene sind die Akten aber eindeutig. Die Ernährungsplanung sagt klipp und klar, Millionen Menschen werden sterben. So eine klare Sprache finden Sie in keinem anderen Kontext, auch nicht in Bezug auf die Juden. Wobei klar ist, dass der Hungertod als Erstes die Juden treffen wird, die seit 1941 in den Ghettos eingekerkert sind. Zudem wird 1942, wie gesagt, die Tötung der Juden im Generalgouvernement instrumentalisiert als Teil der Ernährungspolitik.

Kann man also sagen, dass der Holocaust eine eigene ökonomische Rationalität hatte?

Auf den ersten Blick scheint es ökonomisch rational zu sein, die Juden als Arbeitskräfte auszubeuten, nicht sie zu vernichten. Insofern scheint der Holocaust irrational zu sein: Die Nazis brauchen Arbeitskräfte und töten, aus ideologischen Gründen, nicht nur Kinder und Alte, sondern auch arbeitsfähige Erwachsene. Diese Sichtweise ist, oberflächlich gesehen, naheliegend. Aber sie ist zu einfach, der Widerspruch ist nicht so glatt. Denn, wie gesagt, hinzu kommt die Ernährung, die in Form des Hungerplans seit 1942 zum ökonomischen Motiv für den Massenmord wird. Dies bezieht sich auf die gesamte slawische Bevölkerung des Ostens, nicht nur auf Juden. Aber die Juden des Generalgouvernements wollen die Nazis sowieso töten.

Gab es im NS-Regime im Hinblick auf die Vernichtung nicht doch zwei Pole? Die Minderheitenelite der SS mit klarem Mordvorsatz, auf der anderen Seite ein leicht widerstrebendes Militär und den Wirtschaftsapparat, der Arbeitskräfte will. Gab es also durch Ideologie trennende Unterschiede in der Haltung?

Doch, das gab es. Und der Brückenschlag dazwischen – das war die strategische Rolle von Albert Speer. Er soll vermitteln. Wobei man sich von der Wirtschaft kein zu schönes Bild machen sollte. Auch Krupp-Manager haben damals überlegt, wie man sowjetische Zwangsarbeiter mit Prügelstrafe und KZ-Drohung diszipliniert. Es gibt also weniger einen moralischen Unterschied als einen in der funktionalen Differenzierung. Die Wirtschaftsleute müssen sich nicht mit makroökonomischen Fragen der Ernährung beschäftigen – sie suchen Mikrolösungen.

Welche waren das?

Unter anderem Vernichtung durch Arbeit und Ernährung für die, die noch leistungsfähig sind. Wer seinen Bergwerksbetrieb aufrechterhalten will, ernährt die Arbeitsfähigen, lässt die anderen sterben und fordert Ersatz an Zwangsarbeitern an.

Und welcher Blick war der von Speer und Sauckel?

Sie denken: Um die Betriebe in Deutschland mit Arbeitern und Nahrungsmitteln zu versorgen, wird in Kontinentaleuropa umverteilt. Weil die Nahrung knapp ist, drängen sie darauf, im Generalgouvernement ein paar hunderttausend Menschen zu töten, die, wenn auch nur minimal, Nahrung verbrauchen. Das ist die funktionale Differenzierung.

Sie widmen in Ihrem Buch Albert Speer viel Aufmerksamkeit. Warum? Das Bild von Speer als unpolitischer Manager ist ja schon oft genug widerlegt worden.

Na ja, es sind 115 von 775 Seiten. Speer interessiert das Publikum, gewiss. Aber es geht mir weniger um die Person als um den Voluntarismus, den er verkörpert. Speer inszeniert quasi noch mal den „Triumph des Willens“ – als Manager der deutschen Kriegswirtschaft.

Speer galt im bundesdeutschen Bewusstsein lange als der unpolitische Künstler, der von Hitler verführt wurde. Faktisch war er ein Nazitechnokrat, eine der treibenden Kräfte bei fast allen NS-Verbrechen. Wenn Sie diese beiden Bilder nebeneinanderhalten – gibt es eine Schnittmenge?

Ich sehe Speer nicht als Rüstungstechnokraten. Er ist auch als Rüstungsminister noch immer Künstler.

Mögen Sie uns das erklären?

Das mag wie eine gewagte These klingen, aber Speer geht es vor allem um Inszenierung. Mit Joseph Goebbels entwickelt er 1942 die Rüstungspropaganda. Die „Wochenschau“ zeigt im Sommer 1942 ausführlich Bilder der deutschen Rüstung. Goebbels vermerkt, dass diese Bilder bei Männern sehr gut ankommen, Frauen mögen sie nicht so. Bilder von Rüstung als Propagandamittel gab es vorher so nicht. Damit soll die Heimatfront mit den Erfolgen der deutschen Kriegswirtschaft beeindruckt werden. Deshalb inszeniert Speer einen Propagandasieg an der Rüstungsfront nach dem anderen.

Auf welche Weise?

Zunächst wird die Produktion von Munition sensationell gesteigert, dann die der Panzer, schließlich die der U-Boote. Die Arbeiter werden mobilisiert, ebenso die Journalisten, die die Arbeiter zeigen sollen. Speer sieht seine Rolle als Rüstungsminister auch als PR, als Show. So zieht er eine Produktionskampagne nach der anderen als Propagandafeldzug auf. Denn die Rüstung muss die Frage beantworten, wie Deutschland den Krieg noch gewinnen kann. Bis Stalingrad schien der Krieg irgendwie magisch gewonnen zu werden – danach soll Speers Rüstungswunder zeigen, warum Deutschland gewinnen kann.

Das war doch nicht nur Show. Speer hat mit brutalsten Mitteln real die Rüstungsproduktion angekurbelt.

Mit brutalsten Mitteln, ja – aber Speers sogenanntes Rüstungswunder kommt schon im Mai 1943 zum Erliegen. Die Produktion steigt für den Rest des Jahres nicht mehr an. Ansonsten tritt er wie ein Architekt auf – nicht wie ein fordistischer Manager, der täglich prüft, mit welchen Details sich der Produktionsprozess optimieren lässt. Speer ist der Typ, der auf der Baustelle erscheint, Druck macht, dass alles gut aussieht, was gebaut wird – und dann zur nächsten Baustelle verschwindet. Die wirklichen Technokraten im Ministerium sind entsetzt über Speer. Im Jahr 1943 treffen die britischen Fliegerbomben in Berlin Speers Ministerium. Speer und Goebbels machen daraus: Toll, die Bürokraten arbeiten viel lockerer, wenn sie keine Aktenberge mehr mitschleppen. Die Planungsstäbe hingegen sind verzweifelt, denn Rohstoffbewirtschaftung kann man ohne Akten nicht machen.

War das Rüstungswunder nur ein PR-Coup für die Nazis?

Wer die Ressourcenflüsse betrachtet, merkt, dass hinterrücks die Ressourcen immer in den Sektor fließen, der gerade propagandistisch angesagt ist – und die Ressourcen dafür von den anderen Sektoren abgezweigt werden. So entsteht der Eindruck des Wunders, der grenzenlosen Möglichkeiten. Die Produktion geht immer nur nach oben – man darf nur nicht auf das Gesamte schauen.

Also kampagnenmäßiges Arbeiten.

Genau. Nach Stalingrad wird „Panzer“ zum Kennwort. Deshalb fließt alles in die Produktion von Panzern. Pointiert gesagt: Wer Kurbelwellen für Flugzeugmotoren will, muss „Panzer“ auf die Bestellung schreiben, sonst bekommt er sie nicht. Hinter der Fassade der unbegrenzten Möglichkeiten sind Grenzen, die sehr schnell ersichtlich sind. Der Bombenkrieg der Alliierten überdeckt übrigens, dass Speers Rüstungsshow zu Ende war. Auch ohne Bomber hätte sich die deutsche Kriegswirtschaft 1944 von innen her aufgelöst.

Weshalb von innen?

Wegen der lange verschobenen Inflation, die 1944 unweigerlich auf Deutschland zukommt. Der Zufluss von Ressourcen aus den besetzten Ländern fällt ab, die Steuern sind bereits sehr hoch, die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung, über Sparkassen den Krieg direkt zu finanzieren, fällt dramatisch ab. Die Rüstung lässt sich 1944 nicht mehr stabil finanzieren.

Herr Tooze, nach all Ihren Recherchen: Welche Fragen sind mit forschendem Blick auf das NS-System noch offen?

Vor allem die nach dem Militarismus und der deutschen Gesellschaft. Warum ist die Aufrüstung 1935 so populär? Welchen Einfluss hat die Populärkultur auf diese innige Waffenliebe der Deutschen? Als typisches Kind der Sechziger- und Siebzigerjahre bin ich in England mit dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Das war Teil meiner Fantasie. Krieg führen. Ich fand damals die deutschen Uniformen und den deutschen Stahlhelm schicker.

Wann kamen Sie erstmals nach Deutschland?

Im Jahr 1974 wurde ich nach Deutschland verpflanzt, und mein in England gepflegter Blick änderte sich radikal. Ich denke, in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist der Militarismus, der doch die NS-Gesellschaft tief geprägt hatte, völlig verdrängt worden. Diese biografische Spannung hat mich nachhaltig geprägt und ist einer der Gründe, warum ich dieses Buch geschrieben habe.

JAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, ist Redakteur von taz.mag und taz zwei; STEFAN REINECKE, geboren 1959, und CHRISTIAN SEMLER, Jahrgang 1938, sind taz-Autoren