„Ich hab keine Angst vor dem Tod“

WERK Der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist über das Alter, die Kraft seiner Jugend, die Sozialdemokratie in der Krise und die Lust am Rauchen. Ein Küchengespräch in Stockholm

■ Geboren: 23. September 1934 in Hjoggböle, Schweden

■ Beruf: Schriftsteller und Dramatiker

■ Leben: In und am Rande Stockholms. Sozialdemokrat. Verheiratet, mehrere Kinder und Enkel

■ Bücher: Debüt 1961 mit „Kristallögat“ („Das Kristallauge“); „Die Ausgelieferten“ (1969), „Der Sekundant“ (1971), „Auszug der Musikanten“ (1982), „Kapitän Nemos Bibliothek“ (1994), „Ein anderes Leben“ (2008) – auf Deutsch erschienen beim Hanser-Verlag

■ Ehrungen: Für die „Ausgelieferten“ erhielt er 1969 den Literaturpreis des Nordischen Rats, zuletzt 2009 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur

INTERVIEW JAN FEDDERSEN

Das Stockholmer Viertel Söder ist ein ehemaliges Arbeiterquartier. Hier hat Per Olov Enquist mit seiner Frau Gunilla eine Wohnung. Gewöhnlich leben beide in Waxholm, das vor den Toren der schwedischen Hauptstadt liegt. Per Olov Enquist hat ein zweites Frühstück vorbereitet, schwedisches Gebäck. In der gemütlichen Küche kann nach Herzenslust geraucht werden. Enquist gilt, abgesehen von Krimiautoren wie Henning Mankell, als der erfolgreichste schwedische Autor in Deutschland – nun ist sein bereits 1968 publizierter Roman „Die Ausgelieferten“ im Herder-Verlag neu veröffentlicht worden. Wir sprechen im Du miteinander – in Schweden nämlich werden nur die Mitglieder der Königsfamilie gesiezt.

sonntaz: Per Olov, es ist ungewöhnlich, zumal im gesundheitsverrückten Schweden, das Rauchen zu erlauben.

Per Olov Enquist: Und dabei rauche ich erst, seit ich mit dem Trinken aufgehört habe. Da war ich schon 56.

Es sieht aus, als rauchtest du ausgesprochen gern.

So ist es, das muss ich sagen. Okay, ich habe voriges Jahr drei Wochen aufgehört, aber meine Frau meinte, als das nicht ging, ich sei eine Missbrauchsnatur, und für mich ist das das Rauchen.

Mit oder ohne gesundheitliche Folgen bislang?

Ich habe ein paar Herzprobleme, ich war wirklich dumm zu glauben, das Rauchen sei ein gutes Mittel, meiner Natur zu folgen – weil ich ja nicht mehr trank.

Wie war es denn, nicht mehr zur Zigarette zu greifen?

Langweilig! Ich bin ja ein Frühaufsteher, ich schreibe meistens am Morgen – und um sechs Uhr, nach der Nacht, eine Zigarette anzustecken, Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen …

Wer raucht, stirbt früher, nicht wahr?

Jenseits der fünfzig ist man doch in der toten Hälfte des Lebens …

aber du lebst noch!

Ja, und wie gern. Aber damit will ich sagen, dass die Jahre nach dem 50. Geburtstag jene sind, da weiß man, dass man sterben muss. Jedes Jahr, das dann noch kommt, ist ein Bonusjahr. Ich habe nun schon 26 von diesen.

Hast du Angst vor dem Tod?

Nein. Nach diesem 6. Februar 1990, als ich mit dem Trinken aufhörte, nicht mehr. Alle Jahre waren und sind ein Geschenk. Das werde ich mir sagen, wenn es wirklich einmal zu Ende geht.

Per Olov, sprechen wir auch über Politik?

Mit Leidenschaft gern.

Du stammst, das ist in vielen deiner Romane aufgeschrieben, aus einem liberalen, sehr christlichen Elternhaus. Woher rührt diese glühende Verehrung für die Sozialdemokratie?

Ich weiß es nicht genau – aber Kommunist wurde ich nie, auch in den Sechzigern nicht, als viele meiner intellektuellen Kollegen heftig mit diesen sympathisiert haben.

In einer Zeitung kritisiertest du neulich die Aufregung um die rechtspopulistischen Schwedendemokraten.

Ja, ich habe nur kommentiert, dass es in jedem Land 8 bis 10 Prozent Idioten gibt – warum nicht auch in Schweden? Dumm fand ich nur, wie alle anderen Parteien auf die Schwedendemokraten reagiert haben. Sie wollten sich nicht in einem Raum mit einem von denen aufhalten. Ich meinte, dass es Demokratie sei, alle anderen zu respektieren. Man liebt sie ja damit nicht.

Und wie ist es heute?

Es hat sich normalisiert – und der Märtyrermythos, den die Schwedendemokraten zelebrierten, ist verschwunden. Jedenfalls heißt Demokratie nicht, dass es keine Dummheit gibt, auch keine besonders dummen Dummheiten.

Was ist das Problem der Sozialdemokratie in Schweden – über die meisten Jahre des vorigen Jahrhunderts hat sie doch die Politik bestimmt und hockt nun in der Opposition?

Ich bin darüber nicht ganz im Klaren.

Fehlt es ihr an Visionen?

Nein, nein, Visionen zu haben ist nicht typisch sozialdemokratisch. Aber die Partei Olof Palmes, sie wirkt oft unklar, verwirrt – und sie hat keine eindeutige Figur mehr, die für die Mehrheit attraktiv wäre, so wie es eben Palme war.

Das klingt ratlos.

Es war auch ein taktischer Fehler, mit den Grünen und den Linken als Block zu kandidieren – aber es gibt viele aus den Gewerkschaften, die können mit den Grünen nicht, und viele aus der Umweltbewegung, die mit Linken nicht können. Das alles zusammen machte es schwierig gegen die, die die Regierung weiter stellen.

Eine schwierige Lage in einem modernen Schweden – sehnst du dich gelegentlich nach einem Leben von früher zurück?

Nein, ich bin wirklich kein Romantiker. Man bot mir an, mein altes Elternhaus in Nordschweden zurückzukaufen. Aber was soll ich da, tausend Kilometer von Stockholm entfernt? Ich wohne hier, habe hier meine Freunde.

Dein Vater musste dir unbekannt bleiben – er starb, als du noch ein kleines Kind warst. Was würdest du deinem Vater heute raten, um in der modernen Welt zu bestehen?

Du musst unbedingt viel lernen. Als Holzarbeiter hast du keine Chance, auch nicht ohne Studienexamen, wahrscheinlich musst du sogar eine Computerausbildung machen. Deine Qualifikation, das würde ich sagen, ist völlig unnütz.

Was war er?

Ein sehr begabter Mann! Eigentlich der geborene Leiter unseres kleinen 80-Menschen-Dorfs, ein Mann mit Initiative und Ideen. Aber ohne Ausbildung wäre er verloren gewesen.

Und was wäre für ihn, der 1935 starb, kulturell heute ganz anders?

Ach, da wäre der Unterschied nicht so groß. Er war ein bescheidener Mann. Vor Kurzem fand ich ein kleines Notizbuch von ihm – mit Poemen. Heute könnte er viel lesen. Um das zu tun, braucht es keine besondere Erziehung, er war offen für kulturelle Einflüsse.

Würde ihm die Welt von heute gefallen?

Aufregend fände er sie. Ich glaube, er war – wie ich – ein Rastloser.

Ist die Welt heute interessanter als die vor fünfzig, siebzig Jahren?

Ja, bestimmt.

Tut die Modernisierung der Welt gut?

Natürlich hat jeder unterschiedliche Perspektiven, aber ich würde die Frage bejahen. 1989, als die Mauer in Europa fiel, war ja eine echte Revolution. Ich habe viele Reisen nach Osteuropa gemacht, auch nach dieser Revolution.

Die mit Zerrüttung einherging – mit starker Arbeitslosigkeit zum Beispiel.

Ich war ja erst gegen die EU, später gegen den Euro. Aber die EU tat, wenn man das so sagen kann, ein gutes Werk mit Osteuropa. Ob man jetzt ein „aber“ anfügen kann, da bin ich mir nicht sicher. Doch für jene jedenfalls, die in Osteuropa leben, ist jetzt alles eine andere Welt.

Linke sagen: Freiheit schön und gut, aber es gab keine materielle Not im Sozialismus.

Eine Tragödie muss man nennen, wenn zwei richtige Prinzipien aneinandergeraten. Freiheit und Arbeitslosigkeit, Kapitalismus … Man muss akzeptieren, dass es kein Paradies gibt.

Wie hast du Osteuropa gesehen?

Die Sowjetunion immer mit Vorbehalt, das war auch bei meinem Buch „Die Ausgelieferten“ so. 1983 aber, lange nach dieser Geschichte, reiste ich nach Riga, um Freunde zu besuchen. Plötzlich fiel mir auf, dass es für die Menschen kaum oder kein Fleisch zu kaufen gibt. Es gab eine Dritte-Welt-Situation zu sehen – und das habe ich dann auch in einer Artikelserie geschrieben.

Und die Reaktionen?

Die sowjetische Botschaft in Stockholm war wütend. Man konnte offenbar über alles schreiben, was man dort gesehen hat – die fehlende Meinungsfreiheit und so. Aber nicht, dass die Ökonomie verfällt, verwittert, untergeht.

Als die Mauer fiel, war es doch ein Schock, oder?

Eine fast ekstatische Freude, das war es.

Vor über 40 Jahren hast du „Die Ausgelieferten“, eine literarische Recherche über das Schicksal von lettischen SS-Soldaten, die 1945 vor der Roten Armee nach Schweden flüchteten, verfasst. Wer warst du damals?

Als ich begann, mich zu interessieren, war ich 31, ein junger Mann voller Vitalität. Ich bewundere ihn – diese Kraft habe ich nicht mehr.

Von welcher Kraft sprichst du?

Ich war völlig offen. Aber ich war naiv und dumm, dieses heiße Eisen anzufassen – denn die Debatte um die Auslieferung der Letten war stumm. Aber diese Stille wollte ich nicht akzeptieren, und das ist wohl typisch für jemanden, der anfängt in seinem Beruf und sich nicht aufhalten lassen will.

Du nimmst in diesem dokumentarischen Roman die Position des Erzählers in der dritten Person ein …

… in der neuen Übersetzung heißt meine Rolle „Der Untersucher“. Das gefällt mir. Ich war ein Untersucher, ich wollte es genau wissen – zumal nachdem alle gesagt haben, das würde mit den Recherchen unmöglich sein.

War die Sowjetunion das Problem?

Nein, ich wollte herausfinden, was mit den Leuten wirklich nach der Auslieferung passierte. Sind sie alle deportiert worden oder umgebracht? Und ich wollte wissen, was Schwedens politische Elite, vor allem aus dem sozialdemokratischen Beton, dachte, wie sie entschieden, was sie bewog.

Die Geschichte: 146 Männer aus Lettland, in ihrer Heimat (teils zwangsrekrutierte) Angehörige der deutschen SS, flüchteten 1945 ins kriegsneutrale Schweden. Zwischen 1945 und 1948 entbrannte dort eine Debatte über die Auslieferung dieser Balten in das inzwischen sowjetische Lettland.

Das Buch: Das inzwischen beim Hanser-Verlag wiederaufgelegte Buch „Die Ausgelieferten“ verwebt die Schicksale dieser Männer mit der Geschichte ihres Chronisten: Enquist schildert kunstvoll seinen eigenen Aufenthalt in den USA, wo er an den Kämpfen um gleiche Rechte für afroamerikanische BürgerInnen teilnahm.

Schweden hatte sehr viele Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen, nicht wahr?

Ja, die waren alle kein Problem. Es war auch keines, dass so viele Deutsche nicht in Schweden bleiben durften, aber am Beispiel der 146 Letten, das brachte irgendetwas zum Überlaufen. Man traute den Balten nicht – sie schienen im Bild der Schweden nicht sehr demokratisch.

Finnen kollaborierten doch auch mit den Deutschen.

Das war etwas anderes. Man sah ihnen das nach, weil die Sowjetunion das Land angegriffen hatte im Winterkrieg. Das waren heroische Kämpfer, die Finnen – nicht aber die Balten. Es war eine monatelange Debatte in allen Zeitungen, in der Politik, in der Öffentlichkeit. Als ich zu recherchieren begann, merkte ich die Explosivität der Atmosphäre jener Zeit sofort.

Im Baltikum empfindet man sich als Opfer der politischen Umstände.

Das zu erörtern müssen die Balten selbst machen, das kann ein schwedischer Schriftsteller nicht. Dass im Baltikum so sehr gelang, die jüdische Bevölkerung zu ermorden, das ist alles nicht von mir genau zu erkunden, das müssen meine Kollegen in diesen Ländern tun. Das ist ein Rucksack mit großen Kartoffeln, den sie tragen müssen …

Du wirst ihn auf keinen Fall mitschleppen?

Nein, für meine Geschichte hatte ich die Vitalität vor 40 Jahren, jetzt nicht mehr.

Obwohl du nicht mehr trinkst.

Ich hörte auf, als ich merkte, dass ich schreiben möchte und ich mir das Gehirn nicht weggetrunken hatte. Schreiben fand ich wichtiger. So hörte ich nach vielen gescheiterten Versuchen auf.

Weißt du, warum du trankst?

Ach, es gibt so viele Analysen, Bücher und Theorien dazu, aber ich weiß es nicht. In meiner Familie gab es keinen Alkoholismus. Ich würde sagen, es war Zufall, überlebt zu haben damals in Island, als ein Versuch, mit dem Trinken aufzuhören, wieder nicht ging. Ich habe mich dann auf meine – wie sagt man? – Hinterbeine gestellt …

Was bist du heute? Ein trockener Alkoholiker?

Ich sehe das so: Für einen Alkoholiker gibt es immer eine leere Flasche. Und ich bin kein nüchterner Alkoholiker, für mich existiert keine leere Flasche.

Bitte?

Nein, dann wäre ich immer noch mit dieser verdammten Flasche verbunden. Nein, Alkohol existiert für mich nicht. Und das seit 20 Jahren.

Und das Herz?

Ein kleines Problem habe ich mit meinem Herzen. Doch ich spiele noch Tennis, ziemlich gut für einen 76-Jährigen sogar. Ich benenne mich – ganz nüchtern.

Auf dem Küchenschrank steht eine Flasche Weinbrand …

… Wenn meine Frau von der Arbeit kommt, frage ich sie: Warum nimmst du nicht einen Cognac? Dann nimmt sie einen, aber ziemlich wenig.

Alkohol existiert also für dich nicht?

Ja, es passt nicht in meine Identität. Ist das eine Lüge? Okay. Dann sage ich, es ist völlig okay, wenn ich über meine Identität lüge. Aber es klappt.

Jan Feddersen, 54, taz-Redakteur, lebt in Berlin und Schweden. Er raucht gern viel.