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Archiv-Artikel

Wald des Vergessens

FOTOGRAFIE Andreas Gehrkes Fotoserie „Topographie“ zeigt Bäume, Büsche, Moos und Laub. Der Dschungel schützte die Berliner vor der NS-Hinterlassenschaft im Stadtzentrum

Bis zum Kriegsende war hier kein Wald zu finden. Das dicht bebaute Areal grenzte an die Einrichtungen des NS-Terrorapparats

VON BRIGITTE WERNEBURG

In diesem Bildband sieht man wirklich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Genau das macht ihn so groß- und einzigartig. Fast erkennt man den Ort nicht, an dem das Gehölz wächst, von dem die Bilder nicht eindeutig zu sagen wissen, ob es sich um einen Dschungel, um einen verwunschenen Park oder nur um eine vergessene alte Allee handelt.

Dabei macht der Fotograf kein großes Geheimnis um die Stelle, an der er seine Bilder aufnahm. Schon auf dem siebten Blatt ist durch die kahlen Bäume hindurch ein Parkplatz mit einem Gebäude zu sehen, das einwandfrei als der Berliner Dienstsitz des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung identifiziert werden kann. Der Dschungel, in den uns Andreas Gehrke entführt, liegt mitten in der Stadt, fünf Gehminuten vom Potsdamer Platz entfernt; täglich fahren tausende Fahrgäste der Buslinie M 29 an ihm vorbei.

Bis zum Kriegsende war hier alles andere zu finden, nur kein Wald. Das damals dicht bebaute Areal grenzte an die wichtigsten Einrichtungen des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Terrorapparats: an die in der Prinz-Albrecht- und der Wilhelmstraße gelegenen Zentralen der Gestapo, der Kriminalpolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), die 1939 unter dem Dach des Reichssicherheitshauptamts der SS zusammengefasst wurden. Im sogenannten Hausgefängnis inhaftierte, verhörte und folterte die Geheime Staatspolizei tausende politische und andere Gegner und Opfer der NS-Diktatur aus dem In- und Ausland. In den Büros darüber wurde der Völkermord an den Juden Europas organisiert.

Nicht angetastet

Die von den Berlinern Akazien genannten Robinien, die Andreas Gehrke fotografiert hat, sind seit der Teilung der Stadt und dem Mauerbau 1961 ungestört in die Höhe gewachsen; und mit ihnen auch der Efeu, der wilde Wein und die anderen Klettergewächse, die ihre Luftwurzeln in dichten Büscheln auf den Boden werfen.

Erst mit dem Wiederaufbau des nahe gelegenen Martin-Gropius-Baus zwischen 1978 und 1986 und endlich mit der Freilegung der „Topographie des Terrors“ – also der baulichen Überreste des NS-Apparats auf dem Prinz-Albrecht-Gelände – zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 trat auch das Wäldchen wieder in das Bewusstsein der Stadt. Dabei wurde die kleine, urtümliche Naturlandschaft von den mit der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“ befassten Planern nicht angetastet. Schon weil die Spurensuche nach den Hinterlassenschaften der Diktatur hier im Sande verlief. Zu ihnen liegt das Areal randständig, es ist eben nur „Topographie“, so wie Andreas Gehrke seinen Band zu Recht genannt hat. Dafür steht diese aber sehr aussagekräftig für die Nachkriegsgeschichte Berlins; für diffuse, unergründete Ängste, für Tabuisierung, Verdrängen und Vergessen.

In Andreas Gehrkes 2007 entstandener, jetzt in Buchform erschienener Serie „Topographie“ allerdings entfaltet sich zunächst einmal nur der Ort selbst. Alle Geschichte und alle Geschichten treten in den Hintergrund. Unsere Aufmerksamkeit, unsere Verwunderung, unser Staunen, unsere Neugierde gilt allein den Bäumen, dem Buschwerk, dem Moos und dem Laub, das die undefinierten Wege bedeckt. Wir wundern uns über die Vielfalt und Pracht der Farben Braun und Grün, und es überrascht uns das berückende Muster, das Stämme, Äste und Blattwerk bilden. An seiner Form liegt es, dass wir uns einmal in einem Urwald wähnen und das andere Mal doch in einem wenn auch verwahrlosten Park. Unsere Spannung lässt nicht nach, wenn wir von einer Bildtafel zu nächsten blättern, insgesamt fünfzig mal. Kann man Bäume wirklich so fotografieren? So sachlich, kühl und doch so aufregend zugleich? Also fängt man noch einmal zu blättern an. Beim zehnten Mal, da erkennt man allmählich, auf welch kleiner Fläche sich der Fotograf bewegt hat. Dann fängt man an, zu fragen, worüber hier das Gras, genauer der Wald, eigentlich wuchs.

■ Andreas Gehrke: „Topographie“. Distanz Verlag, Berlin 2011, 130 Seiten, 50 Farbabb., 49,90 Euro