Im Zettelkasten der Fotologie

AUSSTELLUNG „Die Bielefelder Schule – Fotokunst im Kontext“ zeigt die Stadt als Zentrum des fotografischen Experiments

1973 zum Professor berufen, wurde Gottfried Jäger für Ostwestfalen, was Bernd Becher drei Jahre später für Düsseldorf wurde: ein Pionier

VON RALF HANSELLE

Die „Bielefelder Schule“ ist ein Zettelkasten. Der Soziologe Niklas Luhmann hat ihn 1968 mit in die Stadt gebracht. Seither entwickelte er sich zum vielleicht bedeutendsten Möbelstück Ostwestfalens. Die gesamte systemische Schule in der Soziologie scheint aus diesem einen Kasten zusammengebaut worden zu sein. Ein ganzes Umzugsunternehmen soll es nach Luhmanns Tod daher gebraucht haben, um das gewaltige Möbel voller Verweise und Notizen aus der Provinzmetropole wieder abzuholen.

Doch es gibt auch andere „Bielefelder Schulen“. Eine davon ist eine Petersburger Hängung. Als solche jedenfalls präsentiert sie sich zurzeit in der alten Bibliothek der Stadt: Es ist die „Bielefelder Schule“ der Fotografie. Eine Schule, die eng verknüpft ist mit der Studienrichtung Fotografie und Medien an der dortigen Fachhochschule. Fotologen wie Gottfried Jäger oder Karl Martin Holzhäuser haben sie einst geprägt; Künstler und Dokumentaristen wie Katharina Bosse oder Jürgen Escher haben sie weitergeführt. Heute, nach 50 Jahren, bringen die Fotoklassen der FH noch immer namhafte Lichtbildner in künstlerischer wie angewandter Fotografie hervor.

Anlässlich des 800-jährigen Jubiläums der Stadt wollte man in Bielefeld daher einmal genauer nachschauen, aus welch fotografischen Bausteinen diese ansonsten doch eher als konturlos verschriene Stadt zusammengebaut worden ist. Auf Mitanregung des einstigen Oberbürgermeisters Klaus Schwickert lud man daher den Berliner Fotohistoriker Enno Kaufhold ein, eine Ausstellung über diese zweite, vielleicht weniger bekannte Schule der Stadt zu kuratieren. Und wie gesagt, das Ergebnis ist eine Petersburger Hängung, eine große Übersichtswand im Zentrum des auf zwei Etagen angelegten Ausstellungsrundgangs. Von jedem Künstler wurde hier je eine repräsentative Arbeit aufgehängt. So zeigt sich Kleinformatiges neben 3-D-Großbildern, Gerahmtes neben Aufgeklebtem, Figuratives neben Abstraktem. Eine klassische Porträtaufnahme von Leif Schmodde etwa verlinkt sich mit einem 3-D-Bild des Berliners Sebastian Denz; ein Männerakt von Paula Winkler fusioniert mit einem digital generierten Bildraum Sabine Schründers.

Wie jeder Mythos fußt auch der der „Bielefelder Schule“ auf Helden, Stiftern, Beglaubigungen. Hier heißt der Heros Gottfried Jäger, und sein Zeugnis ist die sogenannte Generative und Konkrete Fotografie. 1973 zum Professor berufen, wurde Jäger für Ostwestfalen, was Bernd Becher drei Jahre später für Düsseldorf wurde: ein Pionier. Ein Quer- und Weiterdenker. Ein Künstler, der die Fotografie von ihren außerbildlichen Verweisen befreit hat und sie ausschließlich auf sich selbst bezog: auf Korn, auf Pixel, auf Licht und Material. Alles wurde von dieser kopflastigen Kunst auseinandergenommen, nur um anschließend zu neuen, minimalen Bildern zusammengebaut werden zu können. Kaum ein Fotograf der Nachkriegszeit hat in dieser Radikalität das Werk von Avantgardisten wie Coburn oder Moholy-Nagy noch einmal aufgegriffen und weitergeführt.

Da ist es fast schade, dass die Ausstellung diesen Nukleus einer Schule lediglich mit ein paar Bildern von Lochbildstrukturen und Farbsystemen würdigt. Doch in seinem kuratorischen Konzept ordnet Kaufhold die Bedeutung eines Einzelnen stets unter die Gleichheit von allen. Jeder Künstler bekommt daher nur genau eine Wand. Das gilt für Jäger wie für seinen Weggefährten, den „Lichtmaler“ Karl Martin Holzhäuser, oder für einen wohl nur Insidern bekannten Norbert Meier mit „ei“. Wer als Besucher tiefer in diese Schule eintauchen will, der muss über den insgesamt mehr als 400 Seiten starken Bild- und Textbänden nachsitzen.

Doch das passt zum bodenständigen Ostwestfalen. Hier ging es nie um Prominenz. Auch wenn in der Ausstellung auffällt, dass es gerade die bekannteren Künstler sind, deren Arbeiten herausragen. Katharina Bosse etwa, seit gut zehn Jahren Professorin an der FH, wird mit einer an James Joyce angelehnten Werkgruppe namens „A Portrait of the Artist as a Young Mother“ gewürdigt. Eine symbolsatte Serie, in der Bosse ihr eigenes Selbst- und Körperbild zur Schau stellt. Mit ihren kunsthistorischen Verweisen ist sie ein Höhepunkt der weitläufigen Ausstellung. Roman Bezjak, ebenfalls ein heute Lehrender, wird mit Architekturbildern vorgestellt, die die Bauten der Sozialistischen Moderne wie Saurier einer untergegangenen Utopie abbilden.

Und so geht es Wand um Wand. Und alles das ist Bielefeld. Ein Konstrukt. Eine sich stets neu schreibende Geschichte. Man muss sie nur erzählen wollen. Man muss sie nur zusammenbringen. Einer wie Gottfried Jäger, dieser Zettelkästler der Fotografie, ist da das beste Fundament. Denn wie der aus kleinen „Fotografemen“ immer wieder neue Bildräume zusammengepuzzelt hat, das passt schon gut zu einer Schule aus Bielefeld. Und egal ob es die nun als ein ästhetisches Ganzes gibt oder nicht: Jägers Generative Fotografie wird von ihr bleiben. Auch über Bielefeld hinaus.

■  Bis 7. 12. 2014. Alte Stadtbibliothek, Bielefeld, Katalog (Kehrer Verlag) 2 Bde. 58 Euro

■  34. Bielefelder Fotosymposium „Strukturen in der Fotografie. Strukturen des Tektonischen – Strukturen des Lebendigen“, 26. bis 28. 11., siehe fotosymposium.de