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Archiv-Artikel

„Die Doppelbelegung macht krank“

Weil die JVA Tegel dauerhaft überfüllt ist, werden viele Zellen mit zwei Häftlingen belegt. Das führt zu Frust und Aggression. Auch die Beamten des Vollzugsdienstes warten sehnsüchtig auf die Eröffnung der neuen JVA Großbeeren – im Jahr 2012

Doppelbelegung

Der größte Männerknast der Bundesrepublik Deutschland in Tegel hat 1.571 Haftplätze. Zurzeit sitzen aber 1.681 Insassen ein. Gründe für die Überbelegung gibt es viele. Bei der letzten Strafrechtsreform im Jahr 1998 wurde der Strafrahmen erweitert. Auf dieser Basis verhängen viele Gerichte längere Strafen und erweiterte Sicherungsverwahrung, während es gleichzeitig weniger Vollzugslockerungen und vorzeitige Entlassungen gibt. Und das, obwohl die Kriminalität in Berlin zurückgeht. Justizexperten sprechen deshalb von hausgemachten Problemen. Verfassungswidrig ist die Doppelbelegung in Tegel aber nicht, weil hier die Gemeinschaftszellen – im Gegensatz zu denen in der JVA Moabit – über einen abgetrennten Sanitärbereich verfügen. PLU

VON NICO POINTNER

Marco Schmidt* wirkt unsicher, darüber kann sein lässiger Blick nicht hinwegtäuschen. Schmidt bekommt zum ersten Mal Besuch. Der 35-Jährige trägt ein olivgrünes Unterhemd, er lehnt an seinem Stockbett, eine Kaffeetasse in der Hand. „Kommt halt rein“, sagt er mürrisch und verschränkt die kräftigen Arme vor der Brust. Sein Mitbewohner wartet auf dem Gang und raucht – in der winzigen Zelle ist kein Platz mehr für ihn.

Seit Monaten teilen sich die beiden eine Acht-Quadratmeter-Zelle in der JVA Tegel. Schrank, Stockbett, ein winziger Tisch, an den Wänden Pin-up-Girls. Ein kleiner Fernseher läuft. Durch das vergitterte Fenster sind nur Mauern und Stacheldraht zu sehen. In dem winzigen Raum lässt sich kein normaler Schritt machen. „Für zwei Leute ist das einfach zu klein“, sagt der kahl geschorene Häftling. „Die Enge ist scheiße.“ Schmidt und sein Zellengenosse sind im Gefängnis arbeitslos – meist verbringen sie den ganzen Tag in ihrer Zelle. „Der Streit beginnt oft schon beim Fernsehprogramm. Dann schaukelt es sich hoch und irgendwann brüllt man sich an.“

Die Justizvollzugsanstalt Tegel ist Deutschlands größter Knast. Die Anstaltsfläche entspricht 14 Fußballfeldern. Trotzdem platzt die JVA aus allen Nähten: 1.681 Männer aus 59 Nationen leben in den hundertjährigen Backsteingebäuden, die für maximal 1.571 Häftlinge ausgelegt sind – Anfang des Jahres waren es sogar 1.700. Die wachsende Zahl der Gefangenen wird nicht durch bauliche Erweiterungen aufgefangen. Stattdessen werden Zellen doppelt belegt. Kritiker sprechen von einem Moloch. Mörder und Vergewaltiger leben hier auf engstem Raum – Aggressionen und Gewalt gehören zum Alltag.

Die Teilanstalt VI erinnert an ein düsteres Krankenhaus. Sie ist in zwölf Stationen unterteilt, je zwei pro Stockwerk. In die Gänge – dunkelrote Böden, blassgrüne Wände – dringt wenig Licht. Das kleine Büro von Frank Nitschke im Erdgeschoss wirkt dagegen hell und freundlich – mal abgesehen von den Gitterstäben hinter den Fenstern. Der 39-Jährige sitzt am Schreibtisch und kontrolliert Tabellen am Computer. Auf den Schulterstücken seiner hellblauen Uniform prangen ein schwarzer Löwe und das Wort „Justiz“. „Die Überfüllung schafft viele Probleme“, sagt Nitschke. „Dabei ist das Leben hinter Gittern schon schwer genug.“

250 Gefangene, wo 180 wohnen sollen

Seit 1989 sorgt Nitschke für Sicherheit und Ordnung in Tegel. Heute ist er stellvertretender Vollzugsdienstleiter der Teilanstalt VI. Nirgendwo ist die Überbelegung so dramatisch zu spüren wie in diesem Plattenbau, der eigentlich 180 Sträflinge aufnehmen soll. „Im vergangenen Sommer hatten wir mehr als 250 Gefangene“, sagt Nitschke. Jeder vorhandene Raum wird genutzt, Putzräume wurden zu Einzelzellen umgerüstet.

Trotzdem hat die sechste Teilanstalt einen guten Ruf in Tegel. „Wir sind ein beliebtes Haus für Kurzstrafer“, sagt Nitschke. In der Anstalt sind drogenfreie Inhaftierte mit Strafen von zwei bis fünf Jahren eingesperrt. Wer hier einsitzt, will wirklich an sich arbeiten. Angesichts der Haftbedingungen fällt das den Gefangenen aber immer schwerer.

Zudem wird Personal eingespart. Ein einziger Sozialarbeiter kümmert sich um die Bedürfnisse von bis zu 30 Gefangenen. Vor kurzem musste Nitschke einen Gefangenen ins Krankenhaus schicken. Rund um die Uhr wurde er dort von sechs Beamten im Schichtdienst bewacht – Beamte, die in der JVA fehlten. „Solche alltäglichen Vorfälle dünnen den Tagesdienst extrem aus“, sagt Nitschke. Oft bewacht ein Beamter eine ganze Station, manchmal ist gar keiner da. Dabei sind die Betreuer die einzigen Ansprechpartner für die Insassen. Aufschluss, Einkleidung, Arztbesuche, Anwaltsgespräche – die Bediensteten kümmern sich 24 Stunden um sämtliche Belange.

Den Unmut der Gefangenen bekommt Nitschke zu spüren. „Wenn es Ärger gibt, stehen alle vor meiner Tür.“ Auf seinem kleinen Schreibtisch stapeln sich grüne und rote Akten neben unzähligen Anträgen. Alle paar Minuten klopft es an der Tür – Sorgen, Beschwerden, Probleme. „Die Häftlinge sind natürlich frustriert“, sagt Nitschke. Er kennt die Nöte der Überfüllung: Arbeitslose sehen abends lange fern und stören die Zellengenossen mit Job, die früh aufstehen müssen, Nichtraucher klagen über verqualmte Zellen.

„Wenn man sich beschwert, gibt’s auf die Schnauze“, sagt Andreas Werner. Der 50-Jährige sitzt seit sieben Jahren wegen Mordes in Tegel. Lebenslänglich. „Wenn du jahrelang nur diese alten Mauern siehst, verändert sich deine Psyche – und nicht gerade zum Guten.“ Werner musste selbst schon Monate in einer doppelt belegten Zelle verbringen. „Dabei ist der Knast schon schlimm genug“, sagt er. Heute lebt er in einer Einzelzelle und ist Chefredakteur des Lichtblicks. Als einzige Gefangenenzeitung Deutschlands geben Inhaftierte das Blatt selbst heraus – unabhängig von der Anstaltsleitung. Das Blatt sei ein Ventil für die Probleme hinter Gittern, ein Stück Freiheit, sagt Werner. Oft kommen Gefangene zu ihm, um von ihren Problemen zu erzählen. „Wenn du in Tegel warst, stehst du danach schlechter da als vorher“, ist er überzeugt. „Die Doppelbelegung macht krank.“

Das bestätigt eine Studie der Universitäten Aachen und Bielefeld: Neun von zehn deutschen Strafgefangenen, so eines ihrer Ergebnisse, leiden unter psychischen Störungen. Und 88 Prozent der Häftlinge sind nach Ansicht der Wissenschaftler behandlungsbedürftig.

Auch Frank Nitschke hat täglich mit Gewalt und Aggressionen zu kämpfen. Gerade labile Insassen bräuchten Rückzugsräume. „Doch im Strafvollzug gibt es keine Privatsphäre – privat ist nur, was wir genehmigen“, sagt Nitschke. Hat ein Häftling bereits eine Heim- und Gefängniskarriere hinter sich, wird er besser mit der Enge fertig. Für Insassen mit gewöhnlicher Biografie ist die Doppelbelegung viel belastender. Im geschlossenen Vollzug Tegel hat jeder Häftling ein hohes Gefährdungspotenzial. „Meist können wir die Probleme entschärfen, bevor es knallt. Aber das wird immer schwieriger“, so der Vollzugsleiter.

Überraschenderweise kam der aus allen Nähten platzende Männerknast in den letzten Jahrzehnten ohne größere Skandale über die Runden. Die meisten Probleme regeln die Insassen unter sich – hinter Gittern gilt das Faustrecht. So entstehen die Momente, die Nitschke an seinem Beruf hasst. „In Alarmsituationen weißt du nie, was dich erwartet“, sagt er. Es gab hier schon mal eine Geiselnahme, er selbst wurde in eine Schlägerei verwickelt. „Du musst dir sofort Respekt verschaffen. Wenn du einmal zuckst, hast du schon verloren.“

Ein junger Mann im Jogginganzug betritt das Büro. Wegen des Lärms auf seiner Station könne er nicht für seinen Schulabschluss lernen, klagt er. Nitschke vertröstet ihn. Nach vier Minuten ist der Gefangene wieder weg. „Wir müssen reden, reden, reden – das ist unser Job“, sagt Nitschke. „Aber das geht nur bis zu einem gewissen Punkt.“

In der Teilanstalt VI sind vier Stationen überfüllt. Es sind genau die vier Stationen, die die Gefangenen auf den offenen Vollzug vorbereiten, den Kern der Resozialisierung. Er soll Verbrecher wieder in die Gesellschaft integrieren. Das ist seit dem Strafvollzugsgesetz von 1976 übergeordnetes Ziel eines jeden Gefängnisaufenthalts. Außer- und innerhalb deutscher Knastmauern ist das eigentlich unumstritten: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“, umschreibt der zweite Paragraph des Gesetzbuchs das wichtigste Vollzugsziel. Erst danach kommt der Schutz der Allgemeinheit.

Die Kriminalität sinkt – aber der Knast wird voller

Die Überbelegung von Tegel ist repräsentativ für den deutschen Strafvollzug. Die Zahl der Strafgefangenen hat 2007 mit mehr als 64.000 ihren Höchststand im vereinten Deutschland erreicht. Auf 100.000 strafmündige Bürger kamen noch vor zehn Jahren 67 Strafgefangene – heute sind es 90. Dabei sinkt die Kriminalitätsrate seit Jahren stetig. Die höhere Belegung hat viel damit zu tun, dass seit der Strafrechtsreform von 1998 längere Strafen verhängt werden, während etwa vorzeitige Entlassungen seltener werden (siehe Kasten).

Ganz Tegel wartet nun sehnsüchtig auf das Jahr 2012. Dann wird im brandenburgischen Großbeeren ein neues Gefängnis in Betrieb genommen – mit 650 Haftplätzen im geschlossenen Männervollzug. Ob und wie lange der Neubau den überfüllten Berliner Vollzug entlasten kann, ist umstritten.

Die Doppelbelegung von Zellen ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dann verfassungswidrig, wenn die Häftlinge ohne abgetrennte Nasszellen zusammenleben müssen. In der JVA Moabit sind seit 2004 mehr als 150 Gefangene auf diese Weise eingesperrt. Für Tegel gilt das nicht. Entsprechend ist die Doppelbelegung hier laut Anstaltsleitung „inhaltlich falsch, aber nicht rechtswidrig“. Allerdings reicht für die Verfassungskonformität schon ein „Schamvorhang“ vor den Sanitäranlagen.

Viele Insassen der JVA klagen gegen ihre Unterbringung. Vollzugsdienstleiter Nitschke zeigt eine typische Beschwerde. „Ich will meine Schule machen. Bitte verlegen Sie mich in eine Einzelzelle“, steht in kindlicher Schreibschrift auf dem Papier. Nitschke hat in 18 Jahren Dienstzeit noch nie erlebt, dass ein Gefangener in Sachen Doppelbelegung Recht bekommen hat. „Die ziehen immer den Kürzeren“, sagt er.

Auch deshalb kommen immer wieder Häftlinge mit dem Wunsch zu Nitschke, in eine andere Teilanstalt verlegt zu werden. Er redet viel mit seinen Insassen, ermutigt sie, die „Füße still zu halten“. Nitschke will keinen einzigen Gefangenen verlieren. In den anderen Häusern von Tegel geht es noch härter zu als im Haus VI, die Chancen auf Vollzugslockerung sinken gegen null. Und Nitschke freut sich über jeden, der in die Freiheit geht. „Leider kommen sie meist wieder“, sagt er. Die allgemeine Rückfallquote liegt bei rund 70 Prozent – auch das Haus VI in Tegel ist da keine Ausnahme.

* Name geändert