: Weil sie lebte „wie eine Deutsche“
DOKU War der „Ehrenmord“ an Hatun Sürücü Einzeltat oder Familienbeschluss? „Verlorene Ehre“ (23 Uhr, ARD) kann diese Frage nicht beantworten, ist aber dennoch hochspannend
VON JENS MÜLLER
Groß war die Empörung, als am 13. April 2006 das Berliner Landgericht Ayhan Sürücü wegen des „Ehrenmordes“ an seiner Schwester Hatun zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilte. Denn zugleich wurden seine beiden älteren Brüder Alpaslan und Mutlu freigesprochen. Was notorische Berufsbesserwisser wie Cem Özdemir oder Bischof Huber, seinerzeit EKD-Ratsvorsitzender, von Anfang an – ohne den Prozess im Gerichtssaal verfolgt zu haben, ohne Kenntnis der Prozessakten und des Sitzungsprotokolls – wussten, der BGH hat es 2007 in der Revision bestätigt: ein Fehlurteil. Das Urteil des Berliner Gerichts, die Freisprüche der Brüder wurden aufgehoben.
Alpaslan und Mutlu Sürücü aber hatten sich derweil in die Türkei begeben, die Türkei liefert sie nicht aus. Damit ist die zentrale Frage in Deutschlands berühmtestem „Ehrenmordfall“ nach wie vor gerichtlich nicht entschieden: Einzeltat oder Familienbeschluss? Also: Hat da „nur“ ein fehlgeleiteter Heranwachsender seinen falsch verstandenen Ehrbegriff in schrecklicher Weise überstrapaziert? Oder hat etwa – mitten in Berlin – ein Familienclan über die eigene Tochter und deren vermeintlich promiskuitive Lebensführung zu Gericht gesessen und ein Todesurteil gefällt?
Es zeugt von einer gewissen Hybris, wenn die Fernsehjournalisten Jo Goll und Matthias Deiß meinen, sie könnten mit ihrer Recherche für einen Fünfundvierzigminüter und ein am Tag nach der Ausstrahlung erscheinendes Buch das leisten, woran sich Polizei und Justiz die Zähne ausgebissen haben. Sie können es natürlich nicht, und die besagte Frage muss weiterhin als offen gelten.
Es ist gleichwohl hochspannend, zu sehen und zu erleben, wie die Personen aus dem Zentrum des Geschehens die Frage beantworten. Denn darin besteht die bemerkenswerte, die große Leistung der Dokumentation: Goll und Deiß haben, neben vielen anderen, sowohl Ayhan Sürücü, der seine Schwester Hatun an einer Bushaltestelle in Tempelhof mit drei Schüssen in den Kopf getötet hat, weil sie lebte „wie eine Deutsche“, der dafür im Gefängnis sitzt, als auch Mutlu Sürücü, dem vorgeworfen wird, die Tatwaffe beschafft zu haben, auf den ein internationaler Haftbefehl ausgestellt ist, vor die Kamera bekommen – und sie ganz einfach, ganz direkt gefragt.
Selbstverständlich sagen die beiden Männer jetzt nichts anderes als im Prozess. Es mag die Wahrheit sein, es mögen Formeln und Floskeln sein, welche den zweiten großen Familienbeschluss, dass Ayhan Sürücü alle Verantwortung auf sich zu nehmen habe, exekutieren. Aber der Zuschauer hört, sieht und erlebt die Sürücüs nun einmal selbst und kann sich sein eigenes Bild von ihnen machen. Er wird es nicht leicht haben.
Ayhan Sürücü erweist sich als durchaus schillernde Person. Er versteht es, sich in wohlfeilen Worten als geläutert, als von unguten Traditionen emanzipiert zu präsentieren, scheint die Integration, deren Fehlen doch offenbar in das Unglück geführt hat, nun im Gefängnis vollzogen zu haben. Um dann auf die Frage, ob er sich als Deutscher fühle, sehr bestimmt zu antworten:
„Nein.“
„Sondern?“
„Ich bin türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung.“
„Sie sind in Deutschland geboren.“
„Das spielt keine Rolle.“
„Sie sind hier geboren, haben Ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht.“
„Ja. Das spielt keine Rolle.“
Und auch das kann man im Film einmal kurz sehen: An der Stahltür zu seiner Gefängniszelle hat Ayhan Sürücü mit Magneten ein Poster befestigt. Es ist ein „Scarface“-Filmposter, Al Pacino als Tony Montana, im weißen Tuxedo, Zigarre in der Hand, trotziger bis überheblicher Ausdruck im Gesicht. Darüber die Versalien: „RESPECT“.
Zur Erinnerung: Tony Montana, der Gangster, der Einwanderer, hat im Film eine Schwester, deren Liebesbeziehung er nicht billigt. Er erschießt den Liebhaber, nicht die Schwester. Respekt?