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Archiv-Artikel

Suggestive Enge

THEATER Der Regisseur Johan Simons hat jetzt Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“ am Thalia Theater Hamburg inszeniert

VON SIMONE KAEMPF

Es gibt Gegenden, die taugen als Metapher für die menschliche Natur. Das norddeutsche Marsch- und Küstenland zum Beispiel. Da wirbelt ständig „Schlamm auf über dem tiefen Grund“, der „Anker der Erinnerung fasst nicht“. Nirgends Stillstand, der doch nötig wäre, „um ein Netz über Vergangenes zu werfen“, heißt es früh in der Inszenierung von „Deutschstunde“. So weiß man, dass die Menschen in ziemlicher Unruhe sind.

Siegfried Lenz hat in „Deutschstunde“ solche Naturbeschreibungen mit Erfahrungen totalitärer Herrschaft verbunden. Als literarische Aufarbeitung deutscher Geschichte erschien der Roman 1968: das Protokoll eines jungen Mannes, der seine Strafarbeit zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ leer abgibt. Nicht, weil er zu wenig, sondern zu viel darüber weiß. Nun erzählt dieser Siggi Jepsen von den Verwicklungen, die sich in den 1940er Jahren in der norddeutschen Einöde abspielen und doch historisches Ausmaß haben: die Dialektik von Pflicht und Gehorsam, Schuld und Mitläufertum.

Große Themen, die Johan Simons in seiner Inszenierung am Thalia Theater ganz auf eine kleine Dorfgemeinschaft konzentriert. Überraschend eng das Bühnenbild: drei Holzbohlenwände zu einem Zimmer zusammengeklappt, eine Mischung aus Gefängnis und Schiffskajüte. Auf diesen Schrägen suchen die Schauspieler immer wieder nach Halt, als fehle ihnen fester Grund. So wie auch der zur Strafarbeit verdonnerte Siggi ins Wanken bringenden Kräften ausgesetzt ist: Denen seines Vaters Ole Jepsen, Polizist in der Außenstelle, der ein Malverbot kontrollieren soll, das er dem Künstler Max Ludwig Nansen in vorauseilender Pflicht selbst überbringt. Und eben jenem Nansen, der zwischen Loyalität zum Staat und zu Freunden anders zu unterscheiden weiß.

Regisseur Johan Simons zeigt in seinen Inszenierungen immer wieder besondere Fähigkeiten, komplexe Texte und Bodenhaftung der Figuren zu verschneiden. Oft wirkt es, als würden sie im Dreck stehen und daraus existenzielle Grundierungen gewinnen. Diese Vorliebe spielt er in „Deutschstunde“ überdeutlich aus. Die Schauspieler suchen in den Schrägen die aufrechte Haltung, geraten ins Rutschen oder liegen kopfüber an den Rändern. Was sich anfangs gut mit dem Stoff kurzschließt, verliert jedoch bald seine Illusion. Es ist eher das Bühnenbild, in dem man hängenbleibt und nicht herauskommt als die moralische Zwickmühle. Suggestive Enge überträgt Simons auf die gesamte Optik: grau gekalktes Holz, braun-graue Kostüme, verblasste Farben wie aus alten Zeiten. Verwaschen geraten allerdings auch die inneren Positionen. Scheint die im braunen Kostüm adrett auftretende Mutter Jepsen (Gabriela Maria Schmeide) anfangs als diejenige, die ihren Mann zur polizeilichen Pflichterfüllung ermuntert, taucht sie bald in die Rolle der Beobachterin ab. Tochter Hilke (Franziska Hartmann) fantasiert von Ausbrüchen, kauert aber meistens passiv mit angezogenen Beinen in der Ecke.

Dabei ließe sich auf die Rededuelle einiges erwidern, die sich zwischen dem Polizisten Jepsen und dem Maler Nansen entspinnen. Kleine Dispute, wann Pflicht und wann Ungehorsam angebracht ist, wie weit man geht, wenn man sich treu bleiben will. Dazu klettern die Schauspieler Jens Harzer und Sebastian Rudolph auf den Schrägen, kaum zu unterscheiden in grauen Bundfaltenhosen, die Haare streng gescheitelt. Beide Schauspieler können auf ganz unterschiedliche Weise Abende bestimmen. An diesem Abend wirken sie jedoch von der Regie abgeklemmt. Vor allem Rudolph geht nicht durch als Maler Nansen, der vom Unsichtbaren und Sichtbaren in seinen Bildern philosophiert. So viele Zutaten: großes Haus, bekannter Roman, starke Schauspieler aus dem Thalia-Ensemble, aber am Ende reduziert sich das Bild auf eine blass wirkende Zwangsgemeinschaft. Der Maler malt, der Polizist exekutiert Gesetze, die Frauen dienen der Familie. Jeder erfüllt, was er für seine Pflicht hält in dieser Familien- und Dorfkonstellation, deren Enge als Quell allen Übels erscheint. Auf diese These schnurrt Simons die Inszenierung zusammen, verleiht ihr Sprödigkeit, wo er vermutlich Härte wollte. Rafft den 500-Seiten-Roman am Ende arg zusammen. Wie sich das Ende der Nazizeit auswirkt, das geben dann nur noch Randszenen her. Nachsichtig kann man am Thalia Theater damit sein. Die Produktion war schon vor der Premiere ein Erfolg. Die Nachfrage nach den Karten ist groß, der Vorverkauf wurde vorgezogen. In Hamburg erinnert man sich Wochen nach seinem Tod gern an Siegfried Lenz. Die Inszenierung mag als Lokalkolorit ihren Teil beitragen, leider bleibt sie aber mehr blasse Pflicht als Kür.