: „Es betrifft uns alle“
PROTEST Polizei als Bedrohung: Schwarze US-Amerikaner wollen keine Zielscheiben sein
■ Mit einer empörten Twitter-Botschaft hat Frankreichs schwarze Justizministerin Christiane Taubira auf die umstrittene Justizentscheidung in der US-Kleinstadt Ferguson reagiert. Zum Verzicht auf die Anklage gegen den weißen Polizisten sowie in Anspielung auf ähnliche Fälle in den USA erklärte die Justizministerin über den Kurzbotschaftendienst Twitter am Dienstag: „Wie alt war Michael Brown? 18. Trayvon Martin? 17. Tamir Rice? 12. Wie alt der nächste? 12 Monate? ‚Tötet sie, bevor sie groß werden‘ – Bob Marley.“
■ Sie zitierte in ihrer auf Englisch verfassten Botschaft eine Textzeile aus einem Lied des schwarzen jamaikanischen Reggae-Musikers Bob Marley, der in seinem Song „I shot the sheriff“ (Ich erschoss den Sheriff) einem Sheriff die Aussage zuschrieb: „Kill them before they grow“ (Tötet sie, bevor sie groß werden).
■ Christiane Taubira hob im Sender France Info am Dienstag hervor, sie wolle kein Urteil über die US-Justizinstitutionen fällen. Wenn aber das Gefühl der „Frustration“ in der US-amerikanischen Bevölkerung so stark sei, müsse die Frage gestellt werden nach dem Vertrauen in die Institutionen „und die Fähigkeit der Institutionen, den sozialen Frieden zu sichern“. Solche Fälle passierten immer bei denselben: „afroamerikanischen Jungs“. (afp)
AUS NEW YORK DOROTHEA HAHN
Keine Anklage. Darren Wilson, der am 9. August den unbewaffneten schwarzen Teenager Michael Brown erschossen hat, muss sich vor keinem Richter verantworten. Ihm kann nichts vorgeworfen werden. Weder Mord noch fahrlässige Tötung noch andere strafrelevante Fehler. Der weiße Polizist hat ganz einfach seinen Dienst getan.
Staatsanwalt Robert McCulloch hat den späten Abend gewählt, um die lange befürchtete Entscheidung der „Grand Jury“ bekannt zu geben. Schon kurz darauf eskaliert am Montag die Situation auf den Straßen der 21.000-Einwohner-Vorstadt. Die Nacht in Ferguson wird die Chronik einer angekündigten Randale. Polizei und Nationalgarde rücken in voller Kampfmontur und mit mehreren Gefängnisbussen aus. In der Innenstadt traktiert die Polizei friedliche Demonstranten, die „No Justice – No Peace“, „Hands Up – Don’t Shoot“ und „Black Lives Matter“ skandieren, mit Rauchbomben und Tränengas. Randale gibt es dort nicht. Auf der anderen Seite der Eisenbahnlinie hingegen, in den schwarzen Stadtteilen, wo auch Michael Brown gelebt hat und gestorben ist, sind die wütenden jungen Leute unter sich. Während sie Schaufenster einschlagen und Geschäfte längs der West Florissant Avenue in Brand stecken, greift kein Polizist und kein Feuerwehrmann ein. Am Morgen danach liegen zahlreiche Geschäfte im schwarzen Ferguson in Trümmern. Das weiße Ferguson ist erfolgreich beschützt worden.
„Wir sind tief enttäuscht, dass der Killer unseres Kindes nicht angeklagt wird“, sagen die Eltern von Michael Brown in den Minuten nach Bekanntgabe der Grand-Jury-Entscheidung. In den vergangenen Monaten sind die beiden auf der Suche nach Gerechtigkeit für ihren Sohn quer durch die USA gereist. An diesem Abend fordern sie die Demonstranten zur Mäßigung auf. „Mein Sohn soll nicht umsonst gestorben sein“, sagt Michael Brown senior. Aus Washington schließt sich Barack Obama im Fernsehen dem Appell der Eltern an. Er fordert sowohl Polizei als auch Demonstranten zur Zurückhaltung auf. Und er sagt, dass die USA noch viel zu tun haben, um die „rassistische Diskriminierung“ zu beenden. Doch während der Präsident um 10 Uhr abends spricht, gehen in Ferguson die ersten Scheiben zu Bruch. TV-Sender übertragen diese Bilder parallel zur Präsidentenrede auf der anderen Hälfte des Bildschirms.
In der Zeit zwischen dem heißen Samstagnachmittag im August, als die Leiche des 18-jährigen Michael Brown viereinhalb Stunden lang unbedeckt auf dem Asphalt lag, und der Nacht im vorzeitig eingebrochenen Winter mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt ist der tote Junge aus einer zuvor unbekannten Vorstadt zu einer Symbolfigur geworden. Nicht nur im Bundesstaat Missouri, der zum tiefen Süden gehört, wo die Erinnerung an Sklaverei und Segregation im Alltag ohnehin spürbarer ist, sondern auch in den Großstädten längs der Ost- und Westküste.
In mindestens zwölf Städten finden in derselben Nacht Demonstrationen statt. „Es ist Zeit zu fliehen – wir gehören einfach nicht dazu“, hat Marvin aus Brooklyn auf einen großen Karton geschrieben, den er auf dem Union Square in New York hochhält. Die Bestandsaufnahme des Afroamerikaners, der sein Leben in New York verbracht hat, ist resigniert: „Sie haben die Waffen.“
Jüngere Demonstranten in New York, in Chicago, in Oakland und in Ferguson laufen mit Schildern herum, auf denen die Namen anderer unbewaffneter, junger schwarzer Männer stehen, die in den letzten Monaten von Polizisten getötet worden sind. Und Slogans wie: „Wir sind nicht eure Zielscheiben“.
Erst am vergangenen Donnerstag erschossen New Yorker Polizisten den 28-jährigen Akai Gurley in einem Treppenhaus in Brooklyn. Im Sommer erwürgten sie den Zigarettenverkäufer Eric Garner in Staten Island. Statistisch kommt fast jeden zweiten Tag ein Afroamerikaner in den USA durch Polizeigewalt zu Tode.
DIE NEW YORKER DEMONSTRANTIN KIERA
„Was müssen wir tun, um endlich gleichbehandelt zu werden?“, fragt die 23-jährige Kiera. Als die Entscheidung in Ferguson veröffentlicht wird, schießen ihr auf dem New Yorker Union Square die Tränen in die Augen: „Offenbar wollen sie gewalttätige Reaktionen“, sagt sie. Kiera ist gleich nach Dienstschluss der Kleiderboutique, in der sie arbeitet, zu der Demonstration gekommen. Sie wollte nicht allein mit ihren Gefühlen bleiben. „Es betrifft uns alle“, sagt sie. „Es ist die Geschichte dieses Landes.“
Die 21-jährige Studentin Shelly befasst sich auch an der Universität mit rassistischen Stereotypen und rassistischer Gewalt in ihrem Land. Und sie beschreibt das Misstrauen von Afroamerikanern gegen die Polizei: „Das ist der Grund, weshalb wir sie in den meisten Fällen erst gar nicht um Hilfe rufen. Wenn überhaupt, dann kommt sie spät.“
Für junge schwarze Männer in den USA bedeutet der Generalverdacht, dass sie permanent auf der Hut sind. „Das hätte ich sein können“, sagt der 35-jährige Tischler Christian in New York. Ein paar Tage vor der nächtlichen Demonstration hat ihn ein Polizist in der U-Bahn angesprochen. Es war tatsächlich nur eine Frage. Aber innerlich ist der junge Vater mit den Rastalöckchen sofort zusammengezuckt. Hat gedacht: „Jetzt bin ich dran.“