Erinnerungen an Pfirsiche und Bananen

MUSIKFESTIVAL Dem Dauerregen zum Trotz: Am Werbellinsee fand am Wochenende „Reclaim the Pionierrepublik“ statt, ein Festival, das an ein Jugendlager aus DDR-Zeiten erinnert. Von Nostalgie hält der Veranstalter nichts

„Die DDR war schon ein komisches Land“

VERANSTALTER MATTHIAS NEUBAUER

VON LUKAS DUBRO

Jens Häußer stimmt ein letztes Mal seine Akustikgitarre. Obwohl er mit seiner neuen Band evazett-kabinett erst ein Konzert bestritten hat, zeigt sich der Berliner entspannt. „Die Atmosphäre hier ist einfach zu familiär, um nervös zu sein“, erklärt er. Vor der Bühne des kleinen Raums sitzen bereits einige Leute auf dem roten Teppich und warten gespannt auf den Beginn des Konzerts.

Draußen wird es langsam dunkel. Seit zwei Tagen regnet es ununterbrochen. Entsprechend stehen rund um den Grillplatz vor dem kleinen Haus, in dem sich die Bühne befindet, nur einige Zelte. Viele sind zu Hause im Trockenen geblieben. Hier, auf der Fläche der sogenannten Touristenstation der ehemaligen Pionierrepublik Wilhelm Pieck am Werbellinsee, findet an diesem Wochenende zum fünften Mal das Musikfestival „Reclaim The Pionierrepublik“ statt.

Organisator des Festivals ist der Büroangestellte Matthias Neubauer. Er ist alles andere als ein DDR-Nostalgiker. „Die DDR war schon ein komisches Land“, konstatiert er. Der Titel des Festivals berge genauso viel Ironie wie die Songzeile „Wir sind sehr stolz auf Katarina Witt“ der ostdeutschen Rockband Sandow. Ihm geht es vor allem um die kulturelle Rückeroberung des Ortes, der zur Ostzeiten mit aller Macht von der Öffentlichkeit abgeschottet wurde. Wie Neubauer berichtet, kam ihm die Idee für das Festival, als er eines Abends allein mit einer Flasche Wein am Ufer des Werbellinsees saß. Das war vor fünf Jahren. Gemeinsam mit seinem Freund Henrik Schade organisierte er seitdem jedes Jahr „Reclaim the Pionierrepublik“ an diesem geschichtsträchtigen Ort.

Wie auf der Krim

Gegründet wurde die Pionierrepublik am 16. Juni 1952 von Wilhelm Pieck, dem einstigen Präsidenten der DDR. Nach dem Vorbild des sowjetischen Pionierlagers „Artek“ auf der Krim sollte am Werbellinsee eine Einrichtung für die politische Jugendbildung entstehen. Hierfür wurden ab 1960 unter anderem eine polytechnische Schule und eine Sporthalle auf dem Gelände errichtet.

Einmal im Schuljahr wurden die besten Pioniere zu sechswöchigen Schulungsseminaren in die Pionierrepublik geschickt, um zu politischen Kadern ausgebildet zu werden. Es galt als ein Privileg, die Einrichtung besuchen zu dürfen. Entsprechend stieg das Lager schnell zum Vorzeigeobjekt der DDR-Jugendorganisation FDJ auf. Allein in den ersten zehn Jahren nahmen 60.000 Pioniere an den Schulungen teil, die sich über den politischen Unterricht hinaus auch aus einer ganzen Reihe paramilitärischer Spiele zusammensetzte. Realitätsnahe Kampfmanöver, Nachtalarme und Verdunklungsübungen standen auf der Tagesordnung.

Friedlicher ging es im Sommerferienlager zu. Ab 1960 lud die FDJ jeden Sommer Kinder aus anderen Ländern der Sowjetunion und den Ländern des geografischen Westens in den „Kinderstaat“. Das Ziel: Die Gäste sollte das Staunen über den real existierenden Sozialismus gelehrt werden. Manche waren so berauscht von dem Ferienglück, dass sie gar nicht mehr wegwollten.

„Es herrschten schon paradiesische Zustände in der Republik“, erinnert sich Jürgen Alpermann. Er war nach der Wende Schulrat in der Region und in dieser Funktion für die Schule der Pionierrepublik zuständig. Es gab ein Kino und einen eigenen Zoo auf dem Gelände. Leider durfte Alpermann als Kind so wie viele andere Kinder der DDR das Lager nie besuchen.

Über den Zaun geklettert

Anders Matthias Neubauer: Mehrere Sommer war er dort. Eingeladen wurde er nie. „Ich war nicht gerade ein Vorzeigepionier“, erklärt er. Deshalb kletterte er heimlich über den Zaun, der das Lager begrenzte. Dort gab es all das in Hülle und Fülle, was in der DDR rar war. Etwa Pfirsiche und Bananen. Es habe ihm Spaß gemacht, mit den Kindern aus den Ländern zu spielen, die er damals nicht besuchen konnte.

Seit der Wiedervereinigung wird das Lager weiterhin für die Jugendbildung genutzt. Regelmäßig besuchen Schulklassen und Sportvereinen die Einrichtung, die seit 1992 den Namen „Europäische Jugenderholungs- und Begegnungsstätte Werbellinsee“ trägt.

2007 wurde das Gelände popkulturell erschlossen. Seitdem gastierten hier jeden Sommer Bands unterschiedlichen Stils. Auch in diesem Jahr bietet das Line-up eine große Vielfalt: Das evazett-kabinett spielt Rockmusik, Candie Hank mischt verschiedene elektronische Stile miteinander, das Trio Fenster hingegen hat „dekonstruierte Popsongs“ im Repertoire. Auch sie sind begeistert von dem Ort und den Menschen, die an diesem Wochenende an den See gekommen sind. „Die Leute sind alle so unglaublich nett hier“, bemerkt der Sänger Jonathan Jarzyna.