: Raffinierte Täuschungen
NACHLASS Der naive Blick weicht einer Desillusionierung: die „Moskauer Tagebücher“ von Christa Wolf
VON TOBIAS SCHWARTZ
Nach Moskau, nach Moskau! So klingt einer der berühmtesten Seufzer der Literaturgeschichte. Lange Zeit war die russische Metropole auratischer Sehnsuchtsort, nicht nur für die schwärmerische Irina, die jüngste von Tschechows „Drei Schwestern“. Moskau war auch ein (allerdings trügerisches) Versprechen für all diejenigen, die an ein praktisches Funktionieren des Kommunismus glaubten. Zumal in der Tauwetterperiode glomm der Funke Hoffnung auf.
Über Kunst und Literatur wurde nach der totalitären Ära Stalins Mitte/Ende der 1950er Jahre freier diskutiert, vorübergehend. Damals, im Juni 1957, besuchte die 28-jährige Christa Wolf als Teil einer DDR-Schriftstellerdelegation erstmals die Stadt, in der auch die Tragödie um Tolstois „Anna Karenina“ ihren Lauf nimmt. Moskau war für die 2011 verstorbene Verfasserin von „Nachdenken über Christa T.“ und „Der geteilte Himmel“ immer auch Schauplatz von Literatur, gegenwärtiger wie vergangener (kein Ort, nirgends, an dem es mehr Dichterdenkmäler gebe). Sie schloss Freundschaften und nahm Moskau als Ausgangspunkt für Exkursionen ans Schwarze Meer, ans Grab Anna Achmatowas in Komarowo oder nach St. Petersburg, wo sie in Begleitung von Dostojewskis leibhaftigem Enkel Romanschauplätze des Meisters aufsucht.
„Moskau!“, seufzt auch Christa Wolf, wenngleich schon einige Jahre älter als Tschechows Irina, als sie zum ersten Mal anreist. Und sie staunt, will staunen, denn was ihr begegnet, erscheint ihrem – noch – naiven Blick wie eine bessere, jedenfalls verheißungsvolle Welt. „Das Leben, scheint mir, ist hier lebendiger, unmittelbarer als bei uns? Das Volk ist hier wirklich ‚Volk‘ “, schreibt sie. Ein Ausbruch von Verklärung, wie sie später einsehen muss.
Stadt der neuen Menschen
Insgesamt zehnmal reiste sie in ihrem Leben in die russische Hauptstadt, oft in Begleitung ihres Mannes Gerhard, der jetzt aus ihrem Nachlass die „Moskauer Tagebücher“ mit Notizen zu allen Reisen herausgegeben und dankenswerterweise einordnend kommentiert hat. Der Band beinhaltet weit mehr als nur Tagebücher, die Christa Wolf immer geschrieben, aber nie als literarische Erzeugnisse betrachtet hat. Es handelt sich um ein ganzes Kompendium aus Briefen von Christa Wolf und russischen Freunden wie Lew Kopelew, Tagebuchauszügen von Brigitte Reimann, mit der sie reist, und von Max Frisch, den sie kennen- und schätzen lernt, Reden, Rezensionen und Fotos. Aus alldem ergibt sich das Bild einer Entwicklung. Der anfänglich naive Blick weicht mehr und mehr einer Desillusionierung, Christa Wolf nimmt sukzessive die durch Erfahrung ernüchterte Perspektive Maschas ein, der mittleren der Tschechow’schen „Drei Schwestern“.
Nur wenige Jahre nach Christa Wolfs erstem Moskau-Aufenthalt reiste übrigens ihr Jahrgangsgenosse Hans Magnus Enzensberger (beide wurden 1929 geboren) ebenfalls in die Sowjetunion – seine Perspektive ist jetzt zeitgleich mit den „Moskauer Tagebüchern“ in seinem Erinnerungsband „Tumult“ greifbar. Ein Vergleich bietet sich daher an. Enzensbergers Beobachtungen sind tendenziell distanzierter, gelegentlich ironisch, immerhin aber artet sein Besuch in einen – wie er es nennt – „russischen Roman“ aus, eine Amour fou mit der jungen Russin Mascha [sic!], der er sogar seine Ehe opfert.
Christa Wolf fehlt es in Moskau nicht an Verehrern, anders als Brigitte Reimann aber – die ihr gegenüber diesbezüglich explizite Details verrät – lässt sie sich auf keine Amourösitäten ein und bleibt ihrem Gerhard treu. Kein „russischer Roman“ also, dafür immerhin eine „Moskauer Novelle“ (Liebesgeschichte inklusive), mit der die Autorin schließlich 1961 debütierte.
Vor 25 Jahren, kurz vor dem Mauerfall, kam es während ihrer zehnten Moskauer Reise angesichts von Massenflucht und den Leipziger Demonstrationen daheim zu folgendem Dialog: „Boris: Aber was wollen die Leute! Ich: Glasnost! Er: Wir haben Glasnost, aber nichts zu essen. Also tauschen wir doch.“
Skeptisch geworden, enttäuscht, war Christa Wolf bereits in den Sechzigern: „Eine geistige Erneuerung des Marxismus wird aus der SU wahrscheinlich kaum kommen? ‚Der neue Mensch‘ existiert gar nicht – das war die raffinierteste und vielleicht den Täuschern selbst unbewussteste von allen Täuschungen.“
Dennoch blieb sie immer eine Idealistin, in vielerlei Hinsicht. „Wir haben dieses Land geliebt“, heißt es in ihrem letzten großen Roman „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, aus dem etliche die Moskauer Reisen betreffende Passagen neben den Tagebuchnotizen abgedruckt sind. Gemeint ist natürlich die DDR. „Christa Wolf wollte auch nicht auf den Traum von einem sozialistischen Deutschland verzichten“, schreibt Lew Kopelew 1993, nachdem aufgrund eines verjährten, marginalen Intermezzos mit der Stasi die Jagd auf seine Freundin eröffnet worden war. Sie ging in die USA, entzog sich der Öffentlichkeit, wurde krank – und schrieb irgendwann „Stadt der Engel“.
Tschechows Theaterklassiker heißt „Drei Schwestern“. Bleibt nach Irina und Mascha noch Olga, die älteste. Sie träumt vom ruhigen Hausfrauendasein. Davon kann bei Christa Wolf, die trotz allem nie resignierte, keine Rede sein.
■ Christa Wolf: „Moskauer Tagebücher“. Suhrkamp, Berlin 2014, 266 Seiten, 22,95 Euro