AN DER FLEISCHTHEKE
: Viel Scham

Was glänzt da eigentlich für ein Tropfen auf seinem Hackbeil?

Der Wurstfachverkäufer hat Schnupfen. „Was darf’s sein, der Herr?“, schnieft er. Ich sollte umgehend kehrt machen und schnurstracks das Kühlregal mit den abgepackten Produkten ansteuern. Doch ich habe Angst, ihn zu brüskieren. So wie vor wenigen Sekunden, als ich es unterlassen habe, ihn darauf hinzuweisen, dass er keine Hygiene-Handschuhe trägt. Darum hebe ich an: „Ich hätte gerne …“

„Rhrhrhrhrhrhrhrhrhrhrhrhrhrhrh!, zieht er den Schnodder hoch. Nun fallen mir seine roten Augen und der blasse Teint auf. Was ist eigentlich mit Ebola? Davon spricht schon lange niemand mehr. Aber weshalb eigentlich? Ist die Gefahr bereits besiegt? Würden meine Selbsterhaltungstriebe funktionieren, ich würde mich erkundigen: „Waren Sie letztens zufällig in Liberia, Sierra Leone oder Guinea?“ Meine aus der Pubertät konservierte Scham und meine soziale Unsicherheit sind stärker. Lieber sterben als etwas tun, das mich in eine peinliche Situation bringen könnte.

„ … Hackfleisch, gemischtes Hack. Für Buletten.“ Er wischt sich die Nase am Ärmel ab. Was glänzt da eigentlich für ein Tropfen auf seinem Hackbeil? Heimlich an seine Vorgesetzten verpfeifen geht auch nicht. Wer weiß, ob er nicht nur deswegen krank zur Arbeit erscheint, weil er sonst seinen Job verliert. Auch bei Kaiser’s haben sich die Arbeitsbedingungen schließlich verschlechtert. „Ich nehme drei Kilo“, erkläre ich. Er niest und kann das Gesicht nur noch halb abwenden. Eigentlich sind mittlerweile genug Tatbestände erfüllt, die einen Rücktritt vom Kauf mehr als rechtfertigen. Doch ich weiche diesem Konflikt aus. Verdammt! Was nützt es mir, erwachsen zu sein, wenn mich immer noch solche Banalitäten aus dem Konzept bringen? Ich nehme die Bestellung entgegen. Dann schleiche ich zum Kühlregal und tausche sie gegen abgepacktes Hackfleisch aus.

STEPHAN SERIN