Die verlorene Selbstverständlichkeit

In Bremen wird es derzeit erprobt, in Hamburg bald großflächig eingeführt: „Canto“, ein Singpaten-Projekt der Yehudi-Menuhin-Stiftung. Hintergrund ist die musikalische Flaute in der ErzieherInnen-Ausbildung. Nun sollen ehrenamtlich Engagierte für den notwendigen stimmlichen Input sorgen

VON HENNING BLEYL

„Haus Windeck“ ist ein idyllischer Platz: Die alte Reeder-Villa liegt hoch über der Lesum im Bremer Norden. Heute beherbergt sie einen Kindergarten. Über den Wipfeln des alten Parks sieht man die „Grohner Düne“ aufragen, einen gewaltigen Hochhauskomplex mit fast 600 Einheiten. Drei Viertel der Kindergarten-Kinder wohnen dort. Das Haus Windeck ist für sie in vielerlei Hinsicht ein positiver „Gegen-Ort“: Hier haben sie Platz, ein warmes Mittagessen, feste soziale Strukturen – und seit kurzem sogar „Singpaten“. Die Einrichtung gehört zu den drei Bremer Kitas, die bei „Canto“ mitmachen – einem Modellprojekt der Menuhin-Stiftung zur „Musikalisierung der Früherziehung“.

Die Idee ist einfach: Weil Kinder immer weniger singen und Senioren im Prinzip Zeit haben, kommen letztere – nach einigen Trainingseinheiten – einmal die Woche in den Kindergarten. Das gemeinsame Singen soll die Entwicklung der Kinder fördern und der Gewaltprävention dienen.

Heute sind Ursel Kirbach und zwei ihrer Mitstreiterinnen in der „Eulen“-Gruppe. Die Kinder haben während der wenigen Wochen, in denen das Projekt lief, einiges gelernt: „Jetzt den Kuckuck“, ruft ein türkischstämmiger Junge – wobei keinesfalls nur deutsches Liedgut eingeübt wird.

In jedem Fall gehen die Patinnen methodisch vor: Sie üben erst mal das schwierige „Simsalabim Bambasala Dusaladim“ des Refrains. Das klappt nicht, macht aber Spaß. Wer will die „Zipfelmütze“ sein? Xinxin und Xinran, zwei ChinesInnen, die bislang sehr still dabeisaßen, entfalten jetzt eine ungeheure Energie: „Es geht eine ...“

Mansure Zaradi, die aus dem Iran stammende Erzieherin, hat ihre Tambura mitgebracht, die Kinder bekommen Klanghölzer: Gemeinsam lauter und leiser werden, schneller und langsamer – das klingt banal, muss von einer zwanzigköpfigen Gruppe aber erst mal gemeistert werden. Wie auch die „Eulen im Eulenturm“, wo es um den gleichzeitigen Einsatz von Stimme, Händen und Füßen geht. „Gut geheult heute“, sagt Ursel Kirbach zufrieden. Die Kinder finden das offenbar auch.

Singen wird seit einiger Zeit pädagogisch wiederentdeckt, nicht zuletzt wegen immer auffälliger werdender Sprachdefizite. Der deutsche Chorverband verleiht seit 2000 den „Felix“, ein alle drei Jahre zu erneuerndes Zertifikat für Einrichtungen, in denen täglich gesungen wird. Mit bundesweit 2.200 „Felixen“ konnte dies bislang freilich nur für einen Bruchteil festgestellt werden. Ein fundamentales Problem bleibt der geringe Stellenwert von Musik in der Erzieher-Innen-Ausbildung. Das ist die praktische Lücke, die „Canto“ füllen will.

In Hamburg wird das Programm bald im großen Stil laufen. Bis Ende August sollen für ein Drittel der rund 900 Kindergärten Paten gefunden werden, sagt Markus Riemann von der Menuhin-Stiftung. Derzeit laufen die Schulungen für die ersten drei Dutzend Einrichtungen. Riemann berichtet von einem regelrechten Run auf die „Canto“-Hotline. Die Idee begeistert viele. Carlo von Tiedemann hat im NDR eigens eine „Gesprächszeit“ zum Thema angesetzt.

Von einem solch großflächigen Zugriff kann man in Bremen – wo im Gegensatz zur Nachbarstadt ein Großsponsor fehlt – nur träumen. Dabei ist „Canto“ keineswegs nur ein Modell für unausgelastete SeniorInnen. Frau Dittmer zum Beispiel ist Krankenschwester. Sie hat extra die Schicht getauscht, um morgens im Kindergarten dabei sein zu können. Natürlich haben sich die insgesamt rund 20 Bremer PatInnen – zwei Männer rechtfertigen das große „I“ – vorher Gedanken gemacht: Wie das wohl werden würde mit der berüchtigten Unruhe der Kinder, ob die überhaupt mitmachen. „Natürlich muss man sich wieder einfühlen“, sagt eine Fremdsprachensekretärin, deren Kinder lange aus dem Haus sind.

Vor jeder der wöchentlichen „Canto“-Stunden trifft sich die Gruppe zur Vorbereitung im Kindergarten. „Die gehören jetzt zu uns“, heißt es im Haus. Die PatInnen sind beim Kindergarten-Ausflug nach Cuxhaven selbstverständlich dabei. Frau Kirbach ist beglückt von einer kleinen Begegnung beim Einkaufen: „Das war meine Singpatin“, habe eines „ihrer“ Kinder stolz seiner Mutter erklärt. Und die habe große Augen gemacht.

Kontakt zu „Canto“: ☎ 040 / 60 81 01 98 und www.ymsd.de