Topographie des Massenmords

HISTORIKERSTREIT Timothy Snyders Studie „Bloodlands“ will den vergessenen Opfern von Nationalsozialismus und Stalinismus in Osteuropa zu ihrem Recht verhelfen. Doch seine eigene These der Gleichartigkeit des Hitler- und Stalin-Regimes verhindert ebendies

Dass die Wehrmacht zwei Millionen Sowjetsoldaten verhungern ließ, ist hierzulande bis heute eine Marginalie

VON STEFAN REINECKE

Seit dem Historikerstreit vor 25 Jahren ist die Debatte um das Verhältnis von Stalinismus und NS-Regime hierzulande weitgehend stillgelegt. Jürgen Habermas’ Position, dass der Holocaust wegen seiner industrieller Barbarei ein singuläres Ereignis war, ist Common Sense geworden. Ernst Noltes Versuch, das Nazi-Regime als Antwort auf den stalinistischen Terror zu lesen, wurde zu Recht zurückgewiesen. Die Debatte war kein Streit um historische Fakten – es war ein Kampf, in der eine linksliberale, selbstreflexive Erzählung die rechtskonservativ-nationale verdrängte. Für die intellektuelle Selbstverortung der Bundesrepublik war dies eine Weichenstellung.

Und doch ist eine Leerstelle geblieben. Was verband, was trennte die Regime von Hitler und Stalin? Die Idee, dass es purer Zufall war, dass in den 30er Jahren in Berlin und Moskau massenmörderische Regime regierten, ist nicht sonderlich überzeugend. In der Debatte um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ flackerten diese Fragen kurz auf, doch versickerten sie auf den üblichen ideologischen Trampelpfaden.

Zudem gibt es ein leises Unbehagen in der bundesrepublikanische Erinnerungskultur, die auf den Mord an den Juden, auf die Lager, auf Auschwitz fokussiert ist. Dieses Unbehagen hat nichts mit Verdrängung oder einem rechtskonservativen Rollback zu tun. Die Frage, ob die Fokussierung auf Auschwitz nicht auch blinde Flecken erzeugt, muss erlaubt sein. Sie ist, will man die Gefahr kanonischer Erstarrung entgehen, sogar zwingend. Es gibt hierzulande in jeder zweiten Kleinstadt Stolpersteine, die an den Holocaust erinnern – aber, trotz der Debatte um die Wehrmacht-Ausstellung in den 90ern, wenig konkretes Wissen, was in der Ukraine, in Weißrussland und dem Baltikum nach 1939 geschah. Dass die Wehrmacht (nicht die SS) 1941/42 mehr als zwei Millionen Sowjetsoldaten auf freiem Feld verhungern ließ, ist im hiesigen Geschichtsbild bis heute eine Marginalie.

Insofern fällt Timothy Snyders Studie mit dem recht reißerischen Titel „Bloodlands“ auf fruchtbaren Boden. Snyder, ein forscher 42-jähriger Yale-Professor, versucht die geschichtspolitischen Blickverengungen recht geschickt zu öffnen. Sein Fokus richtet sich auf Osteuropa, jenes Gebiet östlich von Posen, das im Norden bis St. Petersburg und im Süden bis zur Krim reicht und von 1933 bis 1945 Schauplatz beispiellos entgrenzter Gewalt wurde. In diesem Gebiet starben damals, Snyders plausibler Schätzung zufolge, 14 Millionen Menschen, allesamt Zivilisten oder Kriegsgefangene. Wehrmachtssoldaten und Rotarmisten, die im Kampf starben, zählen nicht dazu. Das Augenmerk gilt jenen Opfern, die den Gewaltexplosionen der totalitären Regime schutzlos ausgeliefert waren. So zeigt Snyder, dass Hunger im NS-Terror eine ebenso tödliche Waffe war wie Zyklon B. Nach dem geplanten Sieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion im Blitzkrieg wären als Nächstes 30 Millionen Slawen per Hungertod von den Nazis ermordet worden.

Die erste Katastrophe

Die erste Katastrophe ereignete sich 1932/33 in der Ukraine, wo das stalinistische System die Bauern erst in Zwangskollektivierungen trieb und dann, als die Getreideproduktion zusammenbrach, in den Hungertod. Mehr als drei Millionen starben, Kinder, Frauen, Greise, Bauern – nicht wegen einer Hungersnot, sondern wegen einer politischen Terrormaßnahme. Stalin ließ in der Ukraine das Saatgut der Bauern beschlagnahmen. Während die Sowjetunion weiter Getreide exportierte, wuchs in Teilen der Ukraine nur der Kannibalismus.

Es folgte der Große Terror 1937, in dem das Stalin-System 700.000 Bürger ermordete. Viele wurden willkürlich zu Opfern. Vor allem aber traf es ethnische Minderheit, etwa Polen, die Stalin als potenzielle Fünfte Kolonne in einem künftigen Krieg vernichten wollte. Die Volkszählung 1937 ergab, dass rund 8 Million Bürger weniger als vermutet die Sowjetunion bevölkerten. Der Leiter der Zählung wurde daraufhin hingerichtet.

Die zweite Phase nach den stalinistischen Säuberungen, die Snyder dingfest macht, begann nach Kriegsbeginn 1939 und dem Hitler-Stalin-Pakt. Polen wurde zerschlagen – beide Regime massakrierten die polnischen Eliten, die ihnen im Weg standen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 begann die dritte, brutalste Phase: das große Morden der NS-Einsatzgruppen.

Snyder betont, dass die meisten von Nazis ermordeten Juden nicht in Auschwitz oder anderen Vernichtungslagern und KZs starben, sondern Massenerschießungen in den bloodlands zum Opfer fielen. Der enge Blick sowohl auf das Gulag-System und die Lager der Nazis, so die These, verkennt, dass das Gros der Opfer der Mordaktionen in den Weiten der Ukraine und den Ghettos von Kleinstädten von Einsatzgruppen und NKWD-Kommandos getötet wurden.

In der Tat ist in der Bundesrepublik etwa Weißrussland, das mehr als alle anderen Ländern verwüstet wurde, erinnerungspolitische Terra incognita. Wir kennen Lidice und Oradour, wo die SS Massaker anrichtete. Dass solche Mordaktionen zwischen Kaunas und den Prypjatsümpfen fast an der Tagesordnung waren, ist auch Geschichtskundigen kaum präsent. Wahrscheinlich ist dies das zentrale Verdienst dieser Publikation: Es bringt das in vielen kaum gelesenen Detailstudien gesammelte Wissen über die Realität des Terrors an die Leser.

Neue Fakten präsentiert „Bloodlands“ nicht – neu sind Kompilation und Blickrichtung. Wir sollen die Geschichte des NS- und Stalin-Terrors aus der Perspektive der Toten, der Opfer in der Region, sehen lernen. Der Autor unterbricht die Ereignisgeschichte immer wieder durch kurze Zeugnisse von Leidtragenden, von Verhungernden, wahllos Getöteten. Aber es gelingt ihm nicht, eine so verdichtete Erzählung zu schaffen, wie sie Saul Friedländer in seinem Panorama der Geschichte der Judenvernichtung entworfen hat.

„Bloodlands“ will ein geschichtspolitisches Korrektiv sein, ein Baustein für so etwas Nobles wie eine europäisches Kollektiverzählung, in der nicht nur die hartnäckige westeuropäische Ignoranz gegenüber den stalinistischen Massenmorden endlich aufgehoben ist. In dieses Gedächtnis sollen die Erfahrungen der Toten eingespeist werden, ohne diese zu Funktionen zu machen, zu Märtyrern nationaler Erzählungen oder Beweismaterial politischer Großthesen. So in etwa lautet der Anspruch. Daher rühren wohl die teils überschwänglichen Kritiken, etwa von Tony Judt.

„Bloodlands“ könnte ein Schlüsselwerk sein – ist es aber nicht. Denn an ein paar zentralen Passagen des thesenfreudigen Buchs versagt das analytische Vermögen Snyders. Er gibt, argumentativ undiszipliniert, immer wieder der Versuchung nach, Hitler und Stalin nahe zu rücken und die „Interaktion der Systeme“ rhetorisch aufzupumpen. So wird uns nahegelegt, die Unfähigkeit der KPD, gemeinsam mit der SPD 1933 die Machtergreifung der Nazis zu verhindern, für Stalins Werk zu halten. So war es – aber zu dieser Tragik gehört auch die, hier verschwiegene, Unfähigkeit der SPD, sich mit der KPD zu verbünden. Ähnliches gilt für den Hitler-Stalin Pakt, bei dem unerwähnt bleibt, dass er auch das Resultat des Unwillens der Westmächte war, mit Stalin zu kooperieren. Das mögen Details sein – doch stets lässt Snyder weg, was nicht in sein Bild der stetig kooperierenden totalitären Systeme passt.

Rhetorisches Gewölk

So bleibt, wo kühle Analyse gefragt ist, oft rhetorisches Gewölk. 1938 wurden, liest man, „eine Viertelmillion Sowjetbürger aus letztlich ethnischen Gründen erschossen“. Was bedeutet aus „letztlich ethnischen Gründen“? Es wird nahegelegt, dass der großrussische Rassismus, der in Widerspruch zum internationalistischen Pathos der Sowjetunion stand, vergleichbar mit dem Rassismus der Nazis war. Dabei war der Große Terror doch eher von Paranoia getriebene Machtpolitik, die sich gegen jeden richten konnte: Kulaken, Bolschewisten, Bauern, Kasachen, NKWD-Henker, und auch Polen. „Bis 1939 waren nicht die deutschen Juden die Minderheit, die am brutalsten verfolgt wurde, sondern die polnischstämmigen Sowjetbürger“, schreibt Snyder mit leicht triumphierendem Unterton. Was ist damit bewiesen?

Intellektuell schlampig, wenn nicht Schlimmeres, ist schließlich, wie die NS-Mordaktionen 1943/44 und der Widerstand der Partisanen gegen die Nazis zum Beweis für die doppelte Täterschaft von Stalin und Hitler verbogen werden. „Beim Partisanenkrieg in Weißrussland wirkten Hitler und Stalin auf perverse Art zusammen“, so Snyder, denn die (teilweise jüdischen) Partisanen hätten den NS-Terror gegen Zivilisten provoziert und so Massenmorde in Kauf genommen. In diesem rhetorischen Kurzschluss werden alle Katzen grau, Täter und Opfer ununterscheidbar.

Offenbar soll diese Deutung beweisen, wie die totalitären Regime als ein gemeinsames Terrorsystem funktionierten. Doch sie zeigt etwas ganz anders: „Bloodlands“ fehlt es an Augenmaß. Snyder beansprucht, die historischen Fakten und die Opfer der Gewalttaten gegen thesenhaft verformte Geschichtsdeutungen ins Recht zu setzen. Ironischerweise übermalt er für eine These – die Gleichartigkeit des Hitler- und Stalin-Regimes – sein eigenes Bild.

■ Timothy Snyder: „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“. C.H. Beck Verlag, München 2011, 523 Seiten, 29,95 Euro