: Der lange Weg an die Spitze
Einmal am äußersten Zipfel des Kontinents stehen – das gilt in Australien als patriotische Pflicht. Die mühsame Fahrt durch die Wildnis der Cape-York-Halbinsel ist ein Abenteuer für Allrad-Enthusiasten, Naturfreunde und Geschichtsnarren
Beste Reisezeit ist zwischen Mai und November. Campingplätze entlang der Strecke können während der Schulferien voll sein. Man benötigt für einen Weg mindestens eine Woche, eher mehr. Wer die Strecke zur Spitze Australiens selber fahren will, muss nicht nur Erfahrung haben in der Bedienung eines Allradfahrzeugs, er muss auch sonst gut vorbereitet sein. Ein gut ausgerüsteter Geländewagen der oberen Klasse (etwa Nissan Patrol oder Toyota Landcruiser) ist ein Muss. Genügend Wasser, mindestens zwei Ersatzreifen, Reifenflickzeug, essenzielle Ersatzteile wie Luft- und Benzinfilter sowie das Wissen, wie man diese Teile einsetzt, sind Voraussetzungen. Wichtig ist auch ein Satellitentelefon, über das im Notfall Hilfe angefordert werden kann. GSM-Mobiltelefone funktionieren am Cape nicht.
Informationen über das Fahren auf dieser Strecke, über die notwendigen Bestimmungen – auch was das Befahren von Aboriginal-Gebiet angeht – findet man im Buch „Cape York, An Adventurer’s Guide“, ISBN 095787667-X, erhältlich über www.guidebooks.com.au oder im Buchhandel. Informationen über den Zustand der Straßen gibt es unter www.racq.com.au/. Eine Alternative ist eine geführte Reise, wie sie das Familienunternehmen Wilderness Challenge aus Cairns anbietet: www.wilderness-challenge.com.au
Tipp: Die Punsand Bay Safari & Fishing Lodge außerhalb von Bamaga ist nicht nur der Start für die letzten Kilometer zum „Tip“, der Campingplatz ist auch ein idealer Ausgangspunkt für den Besuch der Torres-Strait-Inseln. URW
VON URS WÄLTERLIN
Geduld ist eine wichtige Tugend auf dem Weg zur Spitze – zur Spitze Australiens. Wem es an Geduld mangelt in Cape York, spielt buchstäblich mit dem Leben. Wie der Mann, der nicht auf Hilfe warten wollte, als auf dem Jardine River die Fähre stecken blieb. Nach Stunden ungeduldigen Wartens hatte er genug, sprang ins Wasser und schwamm in Richtung des auf einer Sandbank gestrandeten Autotransporters. Das Krokodil war schneller. Es schnappte sich den Mittvierziger und zog ihn in die Tiefe. Hätte er nur Geduld gehabt.
Wie Bob. Der etwas über 60 Jahre alte ehemalige Wirt aus Melbourne hat vier Jahrzehnte lang gewartet, um sich den Wunsch zu erfüllen, an den nördlichsten Punkt des australischen Festlandes zu reisen. Fast wäre es zu spät gewesen: Erschöpft von vielen Jahren harter Arbeit im Keller und an der Theke, ist sein Körper schwach: Stützkorsett, Stabilisierungsbinden, Voltaren und Kampfersalbe. Vor allem seine Knie und Hüften machen ihm zu schaffen. Das Gehen schmerzt. Doch er will ihn sehen, den „Tip“, die „Spitze“, dort wo sich der Kontinent wie ein Zeigefinger in Richtung Papua-Neuguinea streckt. Nein, ein patriotisches Muss, wie für viele Australier, sei diese Reise für ihn nicht, sagt Bob; „oder vielleicht doch ein wenig“.
Die Cape-York-Halbinsel im Norden des Bundesstaates Queensland ist auf dem australischen Kontinent eine der letzten Grenzen für Abenteuerlustige. Der Massentourismus hat die 795 Kilometer lange Strecke von Cairns an der australischen Ostküste bis zur Spitze des Kontinents noch nicht erschlossen. Das liegt in erster Linie an der Unwegsamkeit des Gebietes. Nicht nur ist die Straße – eher eine Piste – nur zu bestimmten Jahreszeiten befahrbar, sie ist technisch äußerst schwierig und anstrengend. Auswaschungen, tiefe, erst im letzten Moment sichtbare Gräben wechseln sich mit Sand ab. Dann wieder scharfe Felsen, dann Schotter, unstabil wie Glatteis. Flussdurchquerungen sind eine Herausforderung selbst für die erfahrensten Allradfahrer. Auf hunderten von Kilometern frisst sich „Bulldust“ – Pistenstaub so fein wie Talkumpuder – in jede Ritze von Maschine und Mensch. Kein Wunder, dass sich jedes Jahr nur ein paar tausend Fahrzeuge aufmachen, um die Strecke zu befahren.
Nicht alle schaffen es. Die Pannenhilfe holt jedes Jahr hunderte von Autowracks aus dem Gebiet, „und immer mal wieder eine Leiche“, sagt Shawn Huddy. „Drei Menschen sterben im Durchschnitt pro Saison auf dieser Strecke. Die Ursache für Unfälle ist fast immer Selbstüberschätzung“. Der 25-Jährige muss es wissen. Er fährt die Route zum „Tip“ zum x-ten Mal, kennt die Strecke wie den Rücken seiner Hand. Er ist Fahrer eines Cairnser Allradunternehmens. Und Koch. Und Mechaniker. Und Naturexperte. Und Samariter. Und Psychologe. „In diesem Job muss man alles machen“, sagt Shawn. „Weil sich jeder auf einen verlässt.“ Shawns Bus ist ein Oka, ein Allrad-Gefährt australischer Produktion. Die Fahrzeuge sind gebaut für ein Gebiet, das keine Gnade kennt mit Reisenden mit schlechter Ausrüstung oder ungenügender Vorbereitung. Die sieben Tage dauernde, geführte Reise in einem Allrad-Kleinreisebus ist die Alternative zur Selbstfahrerei nach Cape York. Sie erlaubt den Gästen, die Sorge um Öldruck, Kühlflüssigkeit, geplatzte Reifen und Proviant einem Experten zu überlassen und sich stattdessen der unglaublichen Vielfalt natürlicher Schönheiten zu widmen. Ohne kundige Führung würde man auch an vielem Sehenswerten vorbeifahren.
Als der Oka die Touristenstadt Cairns hinter sich lässt, beginnt Shawn mit den Erklärungen. Umgeben ist die 150.000 Quadratkilometer große Cape-York-Halbinsel auf drei Seiten von Wasser: das Korallenmeer im Westen, die Torres-Straße im Norden und der Golf von Carpentaria im Osten. Geologisch dominiert die Great Dividing Range das Gebiet, jener Gebirgszug, der an der Spitze der Halbinsel beginnt und sich der Ostküste entlang über tausende Kilometer bis weit in den Süden des Kontinents zieht. Die Bergketten bildet eine natürliche Wetterscheide: Im Osten liegen die fruchtbaren und besiedelten Ebenen der Küstengebiete, im Westen das trockene, nur spärlich bewohnte Inland, das „Outback“. Von Cairns aus führt die Tour Richtung Norden über die kleinen Dörfer Lakeland und Laura in den Lakefield Nationalpark. Von dort geht es kurz in Richtung Westen, nach Musgrave, nur um sofort wieder nach rechts einzubiegen, Richtung Norden. Die kleinen Käffer Coen und Archer River sind nicht viel mehr als Tankstellen; ergänzt durch ein Pub, einen Laden für das Notwendigste, ein paar einfache Unterkünfte und ein öffentliches Telefon, das gelegentlich sogar funktioniert. Nur bei einem Abstecher nach Westen, zur Bauxitminenstadt Weipa, kommt man in den Kontakt mit der Zivilisation. Von Weipa geht es zurück auf die Hauptstrecke. Moreton, eine ehemalige Telegrafenstation aus dem Jahr 1887, ist nächster Zwischenhalt. Danach führt die Tour durch immer isoliertere Gegenden, über den Jardine River, in Richtung der Kleinstadt Bamaga an der Spitze der Halbinsel. Von dort ist es ein Halbtagesausflug zum „Tip“.
Shawn biegt den Schwanenhals seines Mikrofons zurecht und erklärt: „Kaum eine Allradstrecke in Australien führt durch so viele verschiedenartige Landschaften.“ An der Ostküste gibt es tropischen Regenwald, viele palmengesäumte Strände mit dicken Mangrovensümpfen an den Mündungen der Flüsse. Koralleninseln säumen die fischreichen Gewässer. Im Inland wechseln sich offene Savanne mit dickem Eukalyptuswald ab, der sich vom Jardine River bis hoch zur Spitze zieht. Über 700 verschieden Arten von Eukalypten gibt es, viele davon in Cape York. Immer wieder wird die trockene Landschaft unterbrochen von kleinen Regenwäldern, Überbleibseln aus längst vergangenen Zeiten. Die Vielfalt der natürlichen Umgebung führt zu einer Vielfalt der Flora und Fauna, wie man sie sonst in kaum einer Region Australiens findet. Der Isolation des Gebietes ist es zu verdanken, dass viele dieser Tiere noch in großer Zahl vorkommen und somit von Besuchern ohne großen Aufwand beobachtet werden können. Vor allem für Vogelliebhaber ist Cape York ein absolutes Paradies. Allein im Lakefield-Nationalpark, einer Urlandschaft aus Savannen, Lagunen und kleinen Ständen von Eukalyptuswäldern, leben über 200 verschiedene Vogelarten. Der Iron-Range-Nationalpark ist ein Pilgerort für Ornithologen aus aller Welt. Dort kann man aus nächster Nähe fast alle der auf Cape York vorkommenden Vögel beobachten, darunter mehrere seltene Kakaduarten. Und dann ist da natürlich das Salzwasserkrokodil, ein gefährlicher Jäger, dem immer mal wieder auch Menschen zum Opfer fallen. Praktisch jedes Gewässer auf und um Cape York ist Lebensraum für die Urechsen. Wer trotz eindeutiger Warnungen schwimmen geht, dem kann im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr geholfen werden.
Bob reist mit seiner Frau Dawn. Sie ist gut zehn Jahre jünger. Ebenfalls in Shawn Huddys Oka sitzen ein anderes, etwas sprödes australisches Ehepaar, ein stiller dänischer Börsenmakler mit einer hyperaktiven Ehefrau und zwei verwöhnten Teenagern sowie ein paar alleine reisende Frauen und Männer mittleren Alters. Bob ist eindeutig am schlechtesten zu Fuß. Trotzdem steigt er bei jedem Halt mit etwas Mühe, aber trotzdem schwungvoll aus dem Oka und hört Shawns Erklärungen zu. Es gibt Dutzende solcher Zwischenhalte auf der sieben Tage dauernden Reise, und jeder Hinweis des Naturexperten ist ein Augenöffner. Shawn ist, wie viele seiner Kumpel in Nordaustralien, ein Savannah Guide. Diese eingeschworene Gruppe von spezialisierten Reiseleitern im tropischen Norden des Kontinents hat es sich zur Aufgabe gemacht, Gästen mehr zu bieten als nur oberflächliche Informationen. Alle Savannah Guides haben ein aufwendiges Ausbildungsprogramm absolviert und werden immer wieder auf ihre Kenntnisse geprüft. Aber das Wissen hört nicht bei der Interpretation der Natur auf oder dem sicheren Fahren und dem korrekten Umgang mit Gästen. Savannah Guides müssen auch kochen können. Und das mitten in der Wildnis.
Es ist Abend und Bob greift zum Bier. „Dem Herrgott sei gedankt für die Erfindung der Eiskiste“, sagt er. Jeden Abend im Camp genießt Bob sein kaltes „VB“, Victoria Bitter, sein Lieblingsbier. Übernachtet wird während der Tour auf verschiedenen Plätzen entlang der Strecke. Auf den meisten hat es Wasser und Duschen. Shawn führt jeden Abend ein striktes Regime: Während die Gäste ihre Zelte aufstellen, bereitet er sorgfältig die Küche vor. Dann sitzt die Gruppe gemeinsam um einen Aufklapptisch und schaut Shawn beim Kochen zu.
„Was der Mann jeden Abend hinzaubert, ist wirklich bewundernswert“, sagt der spröde Australier. Seine Frau hilft dem Reiseleiter beim Schälen der Kartoffeln. Heute gibt es „Sheperds Pie“, ein sehr englisches Gericht aus Hackfleisch und Kartoffelbrei. Sämtliche Esswaren und die gesamte Ausrüstung führt Shawn in einem Anhänger mit. Jeder Handgriff sitzt. Gäste können bei der Zubereitung helfen, müssen aber nicht. Die Gruppendynamik lässt allerdings bald jene zu Außenseitern werden, die nicht Hand anlegen. Etwa die beiden Teenager: Nach dem dritten Abend wird ihnen unmissverständlich gesagt, dass auch sie abwaschen sollen. „In der Regel haben wir keine Probleme mit Gästen“, erklärt Shawn, „trotz des Zusammenseins rund um die Uhr.“ Allerdings kommt es schon mal vor, dass auf den Reisen Konflikte ausbrechen und Savannah Guides zu Eheberatern werden müssen.
Wieder ist es Morgen, und die Fahrt durch die Unendlichkeit einer hunderte Millionen Jahre alten Urlandschaft geht weiter. Isolation bestimmt das Leben in Cape York. Durch den Monsunregen sind viele der wenigen hundert Menschen, die dauerhaft in diesem Gebiet leben, sieben Monate lang von der Umwelt abgeschnitten. Überschwemmungen gehören in dieser Zeit zum Alltag. Doch das Wasser bringt Leben. Nachdem sich die Flut zurückgezogen hat, blühen die Pflanzen in neuer Pracht und locken Tiere an. Für die Ureinwohner der Halbinsel war und ist diese Jahreszeit eine Zeit der Fülle und des Überflusses. Sie jagen Kängurus, Echsen, Vögel.
Vor der Ankunft der Weißen vor gut 200 Jahren war Cape York Heimat einer großen Zahl von Aboriginal-Stämmen. Sie trieben regen Handel mit den ethnisch und kulturell anderen Bewohnern der Torres-Straße und Papua-Neuguinea. Vom australischen Festland sind es nur 150 Kilometer zum nördlichen Nachbarstaat. Die oberste der zu Australien gehörenden Inseln der Torres-Straße liegt näher bei Papua-Neuguinea als bei Australien. „Bei gutem Wetter können die Inselbewohner den Menschen am Strand von Papua-Neuguinea zuwinken“, erklärt Shawn.
Wie an den meisten Orten in Australien kam es auch in Cape York zu blutigen Konflikten zwischen Ureinwohnern und den weißen Siedlern, die auf der Suche nach Weideland immer tiefer in die traditionellen Lebensgebiete der Aborigines drangen. Verschiedene Siedlungen waren wie Festungen gebaut, um sich gegen Angriffe von Aborigines verteidigen zu können. Am Ende aber siegten – wie überall im Land – Musketen und Gift gegen Speere und Bumerangs. Zwar geht es den Aborigines der Cape-Region in vielfacher Hinsicht besser als Ureinwohnern anderer Landesgebiete, da sie sich dank ein paar kompetenter und eloquenter Führungspersönlichkeiten wie dem Aboriginal-Anwalt Noel Pearson eine vergleichsweise starke Position in der australischen Politik schaffen konnten. Trotzdem leiden auch die Gemeinden in Cape York unter Problemen, die das Leben vieler australischer Aborigines bestimmen: Alkoholismus, Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, Arbeitslosigkeit, Jugendselbstmorde.
Heute ist der Tag gekommen, auf den Bob so lange gewartet hat. Im Oka geht es zum Ausgangspunkt der knapp einstündigen Wanderung zum „Tip“. Die Spitze des australischen Festlandes liegt auf der Nordseite eines felsigen Hügels und ist nur zu Fuß zu erreichen. Die Luft ist klar, die Sicht bis zu den Inseln der Torres-Straße frei. Bob tut sich schwer, arbeitet sich den Weg hoch, gestützt von Dawn. „Es ist okay, es ist okay“, sagt er, als ihn die anderen der Gruppe überholen und Shawn sich nach dem Befinden erkundigt.
Eine halbe Stunde später, und die Gruppe ist am Ziel. Ein Felsen markiert den Ort, wo das australische Festland endet. Beinahe endet. Das wirkliche Ende ist nämlich ein kleiner Ausläufer, ein anderer Felsen, ein paar Meter weiter im Wasser. Doch auf den wagt man sich besser nicht. Wie überall in den Gewässern um Cape York wimmelt es auch hier von Krokodilen. Als die Gruppe die australische Flagge hisst und sich fotografieren lässt, fehlt einer. Bob hat die letzten 200 Meter nicht geschafft. Er hat Dawn weitergeschickt, damit wenigstens sie den Höhepunkt der Reise erleben möge. Als die Gruppe zurückwandert, findet sie Bob alleine auf der Anhöhe sitzend. Er reibt sich die schmerzenden Knie, blickt über das Meer. „Es ist okay“, sagt er, „es ist okay.“ Das glitzernde Blau des Wassers spiegelt sich in seinen Augen. Er sei schließlich ein geduldiger Mensch. „Vielleicht schaffe ich es das nächste Mal.“