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Archiv-Artikel

„Das Wissen der Muschelforscher nutzen“

Tunnelblick war gestern: Interdisziplinär erforscht die „Earth System Science Resarch School“, ein Projekt des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts, der Jacobs University und der Universität Bremen, ab 2008 den Klimawandel. Warum das besser ist als bisher, erklärt der Physiker Gerrit Lohmann

GERRIT LOHMANN, 43, Physiker und Mathematiker, ist seit Juli 2004 Professor für Paläoklimadynamik am Alfred-Wegener-Institut (AWI).

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Lohman, was ist so neu an der „Earth System Science Research School“?

Gerrit Lohmann: Es geht uns darum, eine interdisziplinäre Ausbildung anzubieten: In Deutschland studiert man bislang Physik, Meteorologie, Ozeanographie, Biologie und promoviert auch in diesen Fächern. Aber es zeigt sich immer stärker, dass die interessanten Fragen an den Schnittstellen dieser Disziplinen liegen. Das heißt, der Physiker muss den Biologen verstehen und umgekehrt. Sich dieses Wissen anzueignen ist während des Studiums zu zeitintensiv. Aber während der Doktorarbeit kann man das schaffen.

Was ist konkret geplant?

Wir wollen an unseren drei Standorten ab 2008 einmal pro Semester zweiwöchige Blockkurse anbieten, bei denen jeweils zwei bis drei Tage einem Thema gewidmet sind. Diese Kurse sind für alle dieselben. Es kann dabei zwar Wiederholungen geben: Der Geologe weiß über Erdgeschichte bereits gut Bescheid. Aber er weiß eventuell nicht, wie er seine Daten richtig analysiert und wie er Ergebnisse interpretiert, die aus der Physik kommen. Da fehlt oft methodisches Wissen. Der Physiker wiederum profitiert vom Geologen, der ihm erklärt, wie eine Sedimentablagerung entsteht und wie das Ökosystem des Meeres funktioniert.

Welche Fachbereiche zählen denn zur Erdsystemforschung?

Paläoklimadynamik, Ozeandynamik, Glaziologie, Geophysik, Marinegeologie, Meeresphysik, Geobiologie, Meerestier-Ökologie – dies alles am Alfred-Wegener-Institut, wo ich forsche. An der Universität Bremen sind das Fernerkundung, sowie Atmosphärenphysik und -chemie. Die Jacobs-Universität fokussiert Datenanalysemethoden.

Und wem dient die Erdsystemforschung überhaupt? Ist das nicht eine reine Betrachtung der Vergangenheit?

Nein, es ist eher eine Kombination: Man will Veränderungen des Ökosystems verstehen, die bislang wenig erforscht wurden. Bislang ist meist von den Auswirkungen der globalen Erwärmung auf die Wolken und die Atmosphäre die Rede. Wir wollen einen Schritt weiter gehen und ergründen, was die Erwärmung etwa für die Versauerung der Ozeane bedeutet. Denn die Zusammensetzung des Kohlendioxids (CO2) und des Wassers wirkt sich auf Lebewesen und ihre Kalkschalen aus. Ein anderes Beispiel sind Amöben, Foraminiferen oder Muscheln, die Stoffe in ihre Kalkschalen einbauen. Und das hängt stark von Umweltbedingungen ab. Das heißt, die Muschelforscher – auch Teil unseres Programms – messen nicht Wassertemperatur oder Salzgehalt, sondern befassen sich mit den Organismen, die dazu beitragen, dass bestimmte Stoffe in die Kalkschalen eingebaut werden. Und ob die Muscheln Lust dazu haben, diese Stoffe einzubauen, hängt vom Klima ab, aber auch von den Verhältnissen in der Umgebung.

Das wäre also ein Beispiel für die neue Zusammenarbeit. Aber was gibt es am Klima eigentlich noch zu erforschen? Ist nicht alles über Eis- und Warmzeiten längst bekannt?

Ja? Ich würde sagen, es ist fast nichts klar. Man weiß ja nicht einmal genau, welches die auslösenden Faktoren für die Veränderungen sind. Zudem unterscheiden sich die Kurven für die Nord- und Südhemisphäre.

Welches waren denn in der Vergangenheit diese auslösenden Faktoren für den Wechsel von Kalt- zu Warmzeiten?

Treibhausgase, Einstrahlung und Rückkoppelungsmechanismen, also die Wechselwirkung zwischen Klimakomponenten, zum Beispiel der Abgabe von CO2 in die Tiefen des Ozeans: Wie viel Plankton entsteht unter bestimmten Bedingungen, welche Sedimentablagerungen gibt es. Das alles weiß man noch nicht genau.

Meinen Sie mit Einstrahlung die Intensität des Sonnenlichts?

Der Begriff bezieht sich auf die Geometrie zwischen Sonne, Erde und anderen Planeten, die nicht konstant ist. Denn die Erde dreht sich ja auf einer Ellipse um die Sonne, und die Form dieser Ellipse verändert sich. Weitere Faktoren sind der Neigungswinkel und die Trudelbewegung der Erde.

Wenn auch früher Treibhausgase Klimaveränderungen erzeugt haben: Heißt das, dass der Mensch am aktuellen Wandel gar nicht schuld ist?

So einfach kann man das nicht sagen. Tatsache ist aber, dass die Veränderung im CO2-Gehalt, der früher in 20.000 bis 100.000 Jahren – dem Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeit – stattfand, derzeit in 100 bis 150 Jahren passiert. Das Tempo hat sich also vervielfacht. Wie sich angesichts dessen die Ökosysteme umstellen, ist noch nicht erforscht, weil jeder auf sein Fachgebiet schaut. Dabei ist es sehr wichtig, interdisziplinär nach den relevanten Effekten zu schauen.

Was wurde aufgrund der Eingleisigkeit der Forschung bislang übersehen?

Man versteht viele Effekte noch nicht genau, etwa die biologische Pumpe im Kohlenstoffkreislauf, oder die Auswirkung der Klimaveränderung auf Lebewesen. Ein anderes Beispiel sind wieder die Muscheln, weil man an ihren Wachstumsringen – wie bei Baumringen – die wechselnden Umweltbedingungen ablesen kann. Uns interessiert, was für die Wachstumsveränderungen verantwortlich ist: nur der wechselnde Lichteinfall, weil zum Beispiel das Meer verschmutzt ist, oder auch Erwärmung sowie wechselnde Nährstoffe? In dieser Richtung ist bislang wenig geforscht worden, und es wäre wichtig, dass Muschel- und Klimaforscher aufeinander zugehen. Solche Kooperationen will die Earth System Science Research School initiieren.

Könnten da sensationelle Ergebnisse herauskommen?

Ich denke schon. Tatsache ist jedenfalls, dass die Erkenntnisse der Muschelforscher bislang wenig genutzt wurden. Bislang wurden für die Rekonstruktion des Klimas der letzten 1.000 Jahre vor allem die Baumring-Forscher herangezogen.

Sind die Ozeane vielleicht sogar die wichtigeren Indikatoren des Klimawandels?

Ich glaube, dass sie zuverlässiger als andere Indikatoren sind. Bäume wachsen unter verschiedensten Bedingungen, und es muss kleinräumiger geforscht werden. Der Ozean dagegen ist auf Tausende von Kilometern ähnlich strukturiert. Man kann aufgrund der Ozeanforschung also vermutlich eine globalere Aussage über den Klimawandel treffen.

Wenn die interdisziplinäre Zusammenarbeit so wichtig ist: Wieso startet die erst jetzt derart systematisch?

Daran ist die Ausbildung schuld: Jeder forscht für sich, und auch für uns Professoren ist es natürlich leichter, Themen zu vergeben, mit denen wir uns auskennen.

Und so rührt jeder im eigenen Brei.

Ja. Aber wenn man Interdisziplinarität von Anfang an systematisch betreibt, sich selbst diesen Ansatz verordnet und den Doktoranden Raum gibt, dies mit einzubeziehen, wird es einen bedeutenden Unterschied machen. Das wollen wir in den kommenden drei Jahren schaffen.

Mal ganz wertfrei gefragt: Ist die Veränderung der Ökosysteme für Sie als Forscher nicht auch ein Faszinosum?

Physiker haben eine Schwäche für Science-Fiction, deshalb sind solche Änderungen immer ein bisschen faszinierend.